: Macht und Ohnmacht der Patriarchen
Die liebe Familie steht weiterhin im Zentrum des neuen türkischen Films und so auch auf dem 27. Internationalen Istanbul Film Festival, das dieses Wochenende zu Ende ging. Gezeigt wurden hier die neuen Filme von Seyfi Teoman, Nezih Ünen, Cagan Irmak, Ömer Vargi oder Orhan Aksoy
VON DIETMAR KAMMERER
Ein Filmfestival ist mehr als nur seine Programmauswahl, es ist ebenso der Ort, an dem es stattfindet. Auf der Istiklal Caddesi, der mondänen Einkaufsstraße im Stadtteil Beyoglu, liegen sämtliche Kinos des 27. Internationalen Istanbul Film Festivals, das am Sonntag zu Ende ging. Und wie die belebte Straße selbst, deren Gründerzeitbauten heute die Filialen globalisierter Unternehmen von Adidas bis Starbucks beherbergen, zwischen denen eine historische Straßenbahn auf und ab fährt, so erzählten auch viele der gezeigten Filme von den schwierigen Verhandlungen zwischen Tradition und Moderne.
So führte die Dokumentation „Lost Songs of Anatolia“ („Anadolu’nun Kayip Sarkilari“) von Nezih Ünen in den vorderasiatischen Teil des Landes, auf den Spuren einer reichen musikalischen Tradition, die seit Jahrhunderten weitergegeben wird. Trotz seines faszinierenden Materials präsentierte der Film allerdings nicht viel mehr als eine kommentarlose Aneinanderreihung musikalischer Performances in malerischer Landschaft.
Zudem hat Ünen der Versuchung nicht widerstehen können, den traditionellen Gesang mit Synthesizern und im Studio eingespielter Begleitmusik zu unterlegen, was dem Ganzen noch zusätzlich den Anstrich eines Diaabends mit Musikbegleitung verlieh.
In der unbestimmten Zeit der Sagen spielt sich Cagan Irmaks „The Messenger“ („Ulak“) ab. Darin zieht ein Geschichtenerzähler von Dorf zu Dorf, um die Fabel vom Botschafter zu verbreiten, dessen Ankunft Veränderung für das Leben aller bedeuten wird, nämlich Rettung für die Kinder und die Ausgestoßenen, Verdammnis für die Herzlosen und die Grausamen.
Der Film verwebt mythologische Versatzstücke mit dem beliebten postmodernen Erzähltrick, zwischen den Ebenen der Filmhandlung und der Geschichte im Film so lange hin und her zu wechseln, bis beides ineinander übergeht. Er habe, so Irmak im Publikumsgespräch, mehrere eindeutige politische Referenzen auf aktuelles Geschehen eingebaut, die aber zumindest für einen nichttürkischen Beobachter im märchenhaft Allgemeinen der Story unerkannt bleiben mussten. Am Ende zählte denn auch weniger das Schicksal der zerstrittenen Dorfgemeinschaft als der Umstand, dass die Verantwortung des Erzählers vom Alten auf den Jungen weitergegeben werden konnte.
Familie steht weiterhin im Zentrum des türkischen Films. Väter und ihre Kinder waren das Thema in „For Love and Honor“ („Kabadayi“) von Ömer Vargi. Ein Exgangster erfährt, dass er einen erwachsenen Sohn hat. Der steckt aktuell in Schwierigkeiten, weil seine kokainschnupfende Freundin einem so einflussreichen wie gewaltfreudigen Drogendealer gefällt.
In dieser Konstellation verhandelt „For Love and Honor“ gleich mehrere Generationenkonflikte: zwischen dem erfahrenen Vater und seinem rebellischen Nachwuchs, der sich partout nicht helfen lassen will, aber auch zwischen einem Gangsterehrebegriff des alten Schlags und der Skrupellosigkeit der neuen Gangsterklasse in ihren teuren Businessanzügen.
Die finale Schießerei im Modus einer gegen ein Dutzend nimmt kaum eine Minute ein; die Versöhnung zwischen tödlich verwundetem Vater und reumütigem Sohn dauert eine gefühlte halbe Stunde.
Wie die Zeit die Rezeption eines Films verändert, konnte man in „Sigh“ („Hickirik“) von Orhan Aksoy erleben, der als Hommage an seinen Hauptdarsteller Ediz Hun zur Aufführung kam. Darin führt eine unmögliche Liebe zwischen zwei Adoptivgeschwistern zu viel Streichereinsatz, blutroten Sonnenuntergängen und Großaufnahmen tränenüberströmter Gesichter. In seinem Entstehungsjahr 1965 hat das mittlerweile zum Klassiker geadelte Rührstück vermutlich für ähnlich dramatische Tränenszenen im Publikum gesorgt, heute wurde wohl in keinem Film des Festivals lauter und herzlicher gelacht.
Die Macht des Patriarchen verhandelte schließlich auch „Summer Book“ („Tatil Kitabi“) von Seyfi Teoman. Der Film erzählt in ruhigen, klaren Bildern aus der Sicht eines zehnjährigen Jungen die Ereignisse eines Sommers: Der strenge Vater erleidet einen Schlaganfall und fällt ins Koma, der Rest der Familie muss lernen, mit dem plötzlichen Machtvakuum umzugehen.
Man würde erwarten, dass aus dieser Situation allerlei Ausbruchsversuche entstehen, aber bei Teoman führen sie immer wieder in die alten Strukturen zurück: Der erwachsene Bruder bleibt entgegen seinem eigenen Wunsch doch beim Militär, wie es der Vater bestimmt hatte; der Onkel, ein Universitätsabbrecher und als Versager verschrien, betreibt zum Schluss die Geschäfte seines Bruders weiter; Ali selbst wird am Ende der Sommerferien wieder auf der Schulbank sitzen, als wäre nichts geschehen.
„Summer Book“ lief auch im Forum der diesjährigen Berlinale und folgt in Bildsprache und Aufbau den aktuell gültigen Regeln des Weltkinos: Sparsamkeit in den Dialogen, lange Einstellungen über Nebensächliches, Dramaturgie der Auslassungen.