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■ Lula, führender Kopf der Linken, über Lateinamerika„Unseren eigenen Weg suchen“

Luis Inácio Lula da Silva, so sein bürgerlicher Name, ist derzeit der herausragendste Vertreter der lateinamerikanischen Linken und Vorsitzender der PT (Partido dos Trabalhadores) in Brasilien. Doch nicht nur er, auch die Oppositionsparteien in Mexiko und Argentinien sind offensichtlich an den ökonomischen Stabilitätserfolgen der dortigen Regierungen gescheitert.

taz: Die lateinamerikanische Linke übt harsche Kritik am Neoliberalismus. Hat dieses Konzept trotzdem gesiegt, weil es wenigstens die Hoffnung auf Teilnahme am Reichtum bietet?

Lula: Ja, aber eine trügerische Hoffnung, eine Lüge. Bis vor kurzem ist uns Mexiko ständig als der Musterschüler Lateinamerikas vorgehalten worden, und zwei Monate nach der Wahl war es vorbei damit. In Argentinien hat die Opposition gesagt, daß die Wirtschaftspolitik in die Krise führen wird. Zwei Wochen nach der Wahl hat der argentinische Wirtschaftsminister eine schwere Rezession, steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Löhne ankündigen müssen.

Sie haben aber nicht gegen einen konservativen Gegner verloren, sondern gegen den Sozialdemokraten Cardoso.

Ja, er hat eine linke intellektuelle Vergangenheit, die ich sehr respektiere. Aber das muß ja nicht heißen, daß er als Politiker die Interessen des Volkes vertritt. Für eine endgültige Einschätzung ist es nach sechs Monaten Regierungszeit natürlich noch zu früh, aber seine bisherige Wirtschaftspolitik erschreckt mich. Er schickt das Militär gegen die streikenden Ölarbeiter und gleichzeitig gibt er der Lobby der Großgrundbesitzer nach, damit die seine Reformen im Parlament unterstützen. Damit entwickelt er sich doch eher zu einem Fujimori als zu einem Clinton.

Die Hoffnung auf Ihren Wahlsieg war sehr groß. Warum haben Sie es trotzdem zum zweiten Mal nicht geschafft?

Da gab es zwei Gründe. Erstens haben wir die Wahlen zu früh gewonnen. Noch im Mai 1994, also fünf Monate vor der Wahl, lag ich in den Meinungsumfragen mit 44 Prozent unangefochten an der Spitze. Wenn die Gefahr eines Präsidenten Lula nicht so groß gewesen wäre, dann hätte Cardoso niemals die geschlossene Unterstützung der herrschenden Kreise bekommen. Der zweite Faktor war natürlich der Plano Real, der aktuelle Stabilisierungsplan, der millimetergenau für die entscheidende Wahlkampfphase geplant worden ist. Das war ein Feind, den wir schlicht und einfach nicht angreifen konnten. Einen Gegenkandidaten kann man kritisieren, aber nicht ein überaus erfolgreiches Stabilisierungsprogramm, das die Inflation von fünfzig auf fast null Prozent pro Monat senkt.

Ist Lateinamerika vom Fetisch der Stabilität beherrscht?

Ende Mai hat sich das Forum von São Paulo versammelt, die gesamte Linke Lateinamerikas. Es ist nicht zu fassen, der Diskurs der herrschenden Klasse – in Mexiko, Venezuela, El Salvador, Argentinien, Brasilien, Uruguay, wo auch immer – ist überall der gleiche: Stabilisierung, Modernisierung, Globalisierung, Privatisierung.

Und die Linke hat dem nichts entgegenzusetzen.

Das Problem ist nicht die mangelnde Kompetenz der Linken. Wir kämpfen gegen sehr mächtige Gegner, gegen den gesamten Staatsapparat, gegen die konservative Elite in der Wirtschaft und in der Politik und nicht zuletzt gegen die Medien.

Ist das nicht ein bißchen zu einfach, die Schuld den anderen zuzuschieben?

Da haben Sie sicherlich recht. Möglicherweise werden unsere Konzepte von der Gesellschaft nicht richtig verstanden; möglicherweise entsprechen unsere Vorstellungen nicht unbedingt den unmittelbaren Erwartungen der Wähler. Wir hatten ein konkretes Programm: die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Bildungspolitik als alleroberste Priorität. Aber überzeugende Konzepte allein tun es nicht. Es kommt auch darauf an, in welcher Version diese Konzepte verbreitet werden. Zum Beispiel: Als wir von der PT in unserem Wahlprogramm angekündigt haben, daß wir innerhalb von vier Jahren acht Millionen Arbeitsplätze schaffen wollen, da hat die gesamte brasilianische Presse gesagt, das sei illusorisch. Einen Monat später hat Cardoso die Schaffung von 13 Millionen Arbeitsplätzen angekündigt, und alle haben Beifall geklatscht.

Wie sieht Ihr Entwicklungsmodell konkret aus?

Wir müssen unseren eigenen Weg suchen, der unseren Verhältnissen und unseren Bedürfnissen gerecht wird. Das ist im ersten Moment tatsächlich schwer zu verstehen. Wir brauchen ein Entwicklungsmodell, das den Klein- und Mittelbauern gerecht wird, den Nahrungsmittelproduzenten, das die Entwicklung der Klein- und Mittelstädte voranbringt, Industrie und Landwirtschaft vernetzt. Wir müssen die Industrie für Massenkonsumgüter entwickeln, und in erster Linie müssen wir das Bildungssystem qualitativ verbessern und für alle zugänglich machen, damit ein qualitativer Sprung in der Entwicklung möglich wird. Deshalb darf der Staat die Kontrolle über die Wirtschaft nicht verlieren. Vergeßt die magischen Formeln von IWF und Weltbank!

Die Weltbank selbst scheint ja seit der Mexikokrise ins Nachdenken gekommen zu sein. Sie verteidigt seit neuestem die Stärkung des Staats und die Bekämpfung der Armut.

Da hat die Weltbank anscheinend im PT-Programm nachgelesen. Sonst war ja immer nur von der Stärkung der Marktkräfte die Rede. Ich sage dazu immer: In Brasilien muß der Markt erst einmal geschaffen werden. Über die Hälfte der Bevölkerung ist vom Konsummarkt ausgeschlossen, weil sie an oder unter der Armutsgrenze leben.

Muß eine Politik der Umverteilung nicht an der Flucht des Kapitals scheitern?

Das Kapital kennt keine Heimat und auch keine Ideologie. Unternehmer sind an Profit orientiert. Und eine Politik, die den Binnenmarkt stärkt, die Millionen von neuen Konsumenten schafft, die schafft auch Gewinnerwartungen.

Wie schätzen Sie die Perspektiven der Linken ein?

Wir haben die Präsidentschaftswahlen zwar verloren, aber an Bedeutung zugenommen. Die PT haben wir gerade mal vor 15 Jahren gegründet, und im letzten Jahr habe ich 27 Prozent aller gültigen Stimmen erhalten – 6,5 Millionen mehr Stimmen als bei meiner Kandidatur 1989. In El Salvador hat Rubén Zamora sofort nach seinem Ausstieg aus dem bewaffneten Kampf 27 Prozent der Stimmen bekommen. Das ist beachtlich. Sicher, wir haben Fehler gemacht und Niederlagen erlitten. Aber meine Hoffnung ist, daß wir eine junge Bewegung sind und noch viel lernen können. Interview: Barbara Fritz

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