: „Lotta Continua„-Prozeß in Frage
Zweifelhaftes Verfahren wegen der Ermordung eines Polizeikommissars im Jahre 1972 ■ Aus Rom Werner Raith
Mit einem regelrechten Trommelfeuer von Zurückweisungen, Aussetzungs- und Annulierungsanträgen wurde gestern in Mailand der Prozeß gegen vier ehemalige Mitglieder der linken Studenten- und Arbeiterorganisation „Lotta continua“ (LC) fortgesetzt. Das Verfahren, in dem es um die Ermordung des Polizeikommissars Luigi Calabresi 1972 geht und in dem der angesehene Journalist Adriano Sofri zusammen mit Ex -Genossen angeklagt ist, war Anfang Dezember wegen Krankheit eines Verteidigers am ersten Verhandlungstag ausgesetzt worden. Der Prozeß gegen Sofri und seine Genossen wurde durch die Geständnisse eines (nun mitangeklagten) Ex-Lotta -continua-Genossen namens Marino möglich, in denen dieser sich selbst als den „materiellen Täter“ bezeichnete und Sofri als Anstifter angab.
Für den Großteil der italienischen Linken handelt es sich um ein zweifelhaftes Verfahren: Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hatte eine „Bewußtseinskrise“ die Geständnisse des ehemaligen Fiat-Arbeiters und LC-Militanten ausgelöst, ohne daß ihn jemand verdächtigt hatte. Nach Ansicht der beschuldigten LC-Führer könnte es sich dabei eher um eine schwere finanzielle Lage Marinos gehandelt haben, aus der er sich durch die Aussicht auf die für „Kronzeugen“ üblichen finanziellen Hilfen zu befreien hoffte.
Widersprüche in seinen Aussagen sowie mangelnde Indizien zur Beweisstützung - mittlerweile auf höchstrichterliches Geheiß bei „Kronzeugenurteilen“ unabdingbar - konnte die Staatsanwaltschaft bisher nicht beibringen. Die große Erregung, die der Prozeß auslöst, hängt jedoch nicht nur mit der undurchsichtigen Ermittlungslage zusammen, sondern mit den Vorfällen um den Mord selbst: Kommissar Calabresi galt und gilt vielen Italienern bis heute als der Verantwortliche für einen seltsamen Fenstersturz aus dem Präsidium in Mailand, bei dem ein von Calabresi zu Unrecht im Zusammenhang mit dem Bombenattentat auf die Landwirtschaftsbank von Mailand 1969 (17 Tote) festgenommener Anarchist starb.
Doch während es trotz acht Prozessen wegen dieses Anschlags aus der rechten Ecke keinerlei Verurteilungen gab und die Sache seit einigen Tagen verjährt ist, legen die Mailänder Ermittler nun allen Ehrgeiz darein, aus den vagen Anschuldigungen ihres Kronzeugen eine Anklage gegen Lotta continua insgesamt zu machen. Von einer „geheimen Untergrundstruktur“ war die Rede, mehr als drei Dutzend ehemalige LC-Mitglieder wurden als Verdächtige verhört. Bis auf Sofri und die beiden anderen Genossen mußten die Verfahren innerhalb kürzester Zeit eingestellt werden.
Das ist nach Ansicht der Verteidigung das Motiv dafür, daß die Ankläger nun besonders starr an ihren Anschuldigungen festhalten. Dabei haben die Fahnder möglicherweise am Ende zu stark angeschoben - Haupteinwendung der Verteidigung gegen den Prozeß ist die „Verdoppelung“ des Untersuchungsverfahrens: Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter hatten parallel zueinander Recherchen durchgeführt, und das ist nach der italienischen Strafprozeßordnung ausdrücklich verboten. Nicht auszuschließen ist daher, daß der gesamte Prozeß platzt oder daß die Urteile spätestens vor dem in solchen Sachen sehr pingeligen Kassationsgerichtshof aufgehoben wird.
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