: Lokalpatriotismus ist in Hessen Trumpf
Hessische Grüne wählen RealpolitikerInnen auf sichere Listenplätze für Bundestagswahl / Bayern-Export Petra Kelly und DDR-Import Freya Klier gescheitert / J.Fischer&Co. sind für eine gesamtdeutsche rot-grüne Koalition / Fundis sehen „Stromlinienpartei“ bereits im Aus ■ Aus Langgöns Michael Blum
„Pfui! Buh! Aufhören!“ - die politische Kultur der Grünen im Realo-Vorzeigeland Hessen ist am Samstag einmal mehr an der Lautstärke der Zurufe zu messen. Wenig basisdemokratisch wird ein Brief des Arbeitskreises der grünen Knackis in der JVA Kassel niedergebrüllt. „Die haben keine andere Möglichkeit, sich zu beteiligen, hört also bitte zu“, fleht der Vorlesende - aber umsonst. Grund für die Aufgeregtheit: Die grünen Knackis haben gewagt, Petra Kelly als ihre Wunschkandidatin für ein Bundestagsmandat vorzuschlagen. Vergebens. Lokalpatriotismus geht der überwiegenden Mehrheit der Hessen-Grünen offenbar vor: Für die drei aussichtsreichsten Plätze der Landesliste für die Bundestagswahl nominierten sie auf ihrer Mitgliederversammlung in Langgöns (Kreis Gießen) am Samstag nur VertreterInnen des realpolitischen Flügels. In einem Wahlmarathon wurde für den Spitzenplatz die Frankfurter Rechtsanwältin, Landtagsabgeordnete mit Schwerpunkt Umwelt und ehemalige Justitiarin der Bundestagsfraktion Ulrike Riedel (41) gewählt. Die erst seit einem halben Jahr im Landtag sitzende ehemalige Mitarbeiterin in Joschka Fischers Ministerium setzte sich unter sechs Bewerberinnen für Listenplatz 1 im zweiten Wahlgang gegen Bayern-Export Petra Kelly durch. Von den 487 Grünen votierten 272 für Riedel und nur 112 für Kelly.
Die Nominierung Kellys durch die osthessischen Grünen hatte im Landesverband für erhebliche Auseinandersetzungen gesorgt. In ihrem Landesverband Bayern fällt Kelly nach zwei Wahlperioden unter die Rotationsregelung und wird jetzt im neuen, nach Befürchtungen der Grünen gesamtdeutschen, Bundestag nicht mehr vertreten sein.
Im Kampf um Platz 3 fiel auch die 1988 aus der DDR ausgebürgerte Schriftstellerin und Regisseurin Freya Klier dem Lokalchauvinismus und dem Bestreben, lediglich Realos nach Bonn zu entsenden, zum Opfer. Klier, die ihre Kandidatur als Brückenschlag zwischen Ost- und West -Bürgerbewegung verstand, war von zwei nord- und mittelhessischen Kreisverbänden nominiert worden. Auch die Vertreterin der Fundis, Manon Tuckfeld, hatte keine Chance. Gewählt wurde an denkwürdigem Ort - vor Jahren hatte der damalige Umweltminister und Realochef Fischer in der gleichen Halle wegen der Hanauer Atombetriebe die Koalitionsfrage gestellt und war daraufhin prompt vom damaligen SPD-Landesvater Börner in die Wüste geschickt worden - auf Platz 3 Marina Steindor. Die weitgehend unbekannte Ärztin und Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Gentechnik konnte überraschend viele Stimmen einheimsen.
Nicht minder heftig war das Hauen und Stechen bei den Männern. Gleich elf kandidierten für Listenplatz 2, darunter auch die Realo-Promis und bisherigen Bundestagsabgeordneten Hubert Kleinert und Dietrich Wetzel sowie der Mitarbeiter der Bundesfraktion, Udo Knapp. Durchsetzen konnte sich Fischer-Freund Hubert Kleinert.
Trotz massiver Einwände der Fundis und RadikalökologInnen peitschten die Realos auch eine bundespolitische Erklärung durch, die auf dem Bundesparteitag im Juni in Dortmund diskutiert werden soll. Die Grünen-Promis um Fischer sprechen sich darin für eine „ökologische, soziale und demokratische Zukunft“ eines Gesamtdeutschlands ein. „Die gesamtdeutsche Alternative gegen schwarz-gelb kann nur rot -grün sein“, verkündete Joschka Fischer die klare Koalitionsaussage und wurde umjubelt. Mit der Erklärung erteilen die Grünen der Vereinigung „über die Köpfe der Menschen in der DDR“ und einem gesamtdeutschen Urnengang noch 1990 eine Absage. Der Radikalökologe Manfred Zieran hatte zuvor vergeblich davor gewarnt, ein Bündnis mit der SPD einzugehen, deren Ost-Ableger nicht nur auf Große Koalition setze, sondern auch dem Staatsvertrag zugestimmt habe. Während VertreterInnen des Fundi-Flügels den gesamtdeutschen Grünen ein Scheitern der „Stromlinienpartei“ an der fünf-Prozent-Hürde prophezeiten, sprach sich die Mehrheit auch dafür aus, daß die Bundespartei schnellstmöglich ein Ost-West-Wahlbündnis auf die Beine stellt.
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