jahrbuch lateinamerika : Linke Hoffnungen
Hugo Chávez in Venezuela, Lula da Silva in Brasilien, Evo Morales in Bolivien – das sind die Linken, die seit einigen Jahren Hoffnungen auf eine politische Wende in Lateinamerika wecken. Verstärkt durch linke Sozialdemokraten wie Tabaré Vásquez in Uruguay, Néstor Kirchner in Argentinien und Michelle Bachelet in Chile, könnten sie endlich Abschied nehmen vom lange Zeit herrschenden neoliberalen Dogma. Doch die Ursachen für ihre politischen Siege sind vielfältig und die Verhältnisse in den einzelnen Ländern zu unterschiedlich. Daher wird der Slogan des Weltsozialforums, „Eine andere Welt ist möglich“, in Lateinamerika noch nicht Realität.
Dieses Resümee zieht das jüngste Jahrbuch Lateinamerika – und es ist auch der Grund für den eher unspektakulären Titel „Neue Optionen lateinamerikanischer Politik“. Dank ihrer wissenschaftlichen Redlichkeit lassen sich die Autorinnen und Autoren nicht von ihren sicher vorhandenen Sympathien für sozialen Wandel zu euphorischen Prognosen verleiten. Das macht die Lektüre spannend, zumal es an Büchern, in denen etwa Hugo Chávez als visionärer Revolutionär hochgelobt oder als diktatorischer Demagoge verteufelt wird, wahrlich kein Mangel besteht.
An keinem anderen Politiker Lateinamerikas scheiden sich so die Geister wie an diesem ehemaligen Putschisten, der Venezuela mit demokratischen Mitteln umzukrempeln versprochen hat. Zu Recht widmen ihm die Herausgeber gleich zwei Kapitel. Der Lateinamerikanist Klaus Meschkat versucht in einer persönlich gehaltenen Bilanz seines jüngsten Venezuela-Besuchs zu einem ausgewogenen Urteil zu kommen, obwohl er selbst unter seinen alten Freunden und Kontaktpersonen nur Leute fand, die entweder mit aller Leidenschaft für oder gegen den umstrittenen Ex-Offizier engagiert waren.
Der Tübinger Politologe Andreas Böckh analysiert die konkreten politischen und wirtschaftspolitischen Schritte der so genannten Bolivarianischen Revolution, versagt sich jedoch ein Gesamturteil. Sicher ist für ihn, dass sich die Hinwendung zu den verarmten Schichten des ölreichen Landes nicht auf die Diskursebene beschränkt. Linke Intellektuelle tun sich aber mit dem messianischen Auftreten des polternden Antiimperialisten genauso schwer wie Medienleute. Das ist wohl auch der Grund, warum die tatsächlichen Errungenschaften dieser Regierung unterbelichtet bleiben, während Berichte über die Konfrontation mit der ebenso breiten wie zersplitterten Oppositionsbewegung im Vordergrund stehen.
Vom Liebling der verarmten Massen zum Favoriten der Wirtschaftsbosse mutierte Brasiliens Präsident Lula. Der Historiker Dawid Danilo Bartelt versucht diese Karriere gerecht zu beurteilen. Nach seinem Urteil war der wirtschaftspolitische Spielraum des Hoffnungsträgers stark eingeschränkt – sowohl durch die ökonomischen Rahmenbedingungen weltweit als auch durch seine Koalition mit rechten Parteien. Trotz der Enttäuschung eines Teils der Linken und der Abwanderung von prominenten Mitstreitern Lulas aus der Arbeiterpartei sowie der Korruptionsskandale im Kongress zieht Bartelt eine positive Bilanz. Er hält es für möglich, dass die Reformen, die Lula versprochen und noch nicht umgesetzt hat, in der zweiten Amtszeit angegangen werden.
Argentiniens „unerwarteter Präsident“ Néstor Kirchner wird vom ehemaligen taz-Korrespondenten Ingo Malcher als zwiespältige Person dargestellt. Auf der einen Seite hat er gegenüber den internationalen Finanzinstitutionen mit seinem Zahlungsmoratorium hoch gepokert und vorerst gewonnen. Er lässt nicht Organisationen wie die Piqueteros, die von der Bevölkerung zunehmend als lästig empfundene Arbeitslosenbewegung, niederknüppeln, sondern vereinnahmt sie und genießt noch immer hohe Popularität auch bei der Linken.
Andererseits neigt er zu autokratischen Entscheidungen, die ihn innerhalb der Peronistischen Partei isolieren. Malcher sieht die anti-neoliberale Politik als zu wenig nachhaltig und fürchtet, dass auch Kirchner bei der nächsten Krise seine Grenzen schnell erkennen wird.
RALF LEONHARD
Karin Gabbert et al. (Hg.): „Jahrbuch Lateinamerika. Analysen und Berichte; Band 29: Neue Optionen lateinamerikanischer Politik“. Westfälisches Dampfboot, Münster 2006, 201 Seiten, 24,90 Euro