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Lincoln ’s calling

Vom Vergessenwerden in der oftmals verworrenen Welt der Nichtversicherten: Wie sieht die Zukunft von Bill Clinton unter einem demokratischen US-Präsidenten Al Gore aus? Zweiter Teil einer Version

von GREIL MARCUS

Obwohl Al Gore nur knapp über George W. Bush gesiegt hatte, wurde seine Wahl zum Präsidenten mit einem Seufzer der Erleichterung begrüßt, der von Maine bis Kalifornien zu spüren war. Nein, eine Bush-Dynastie würde es nicht geben. Ja, es würde zu einer echten Regierung kommen. Nein, trotz der verlockenden Köder, die Bush dem Land hingelegt hatte, trotz der Dollarscheine in seiner Hand, die er an jedem Ort seiner Wahlkampfreise den Leuten vor die Nase hielt, wie einst John D. Rockefeller seine Groschen unter den Straßenjungen austeilte, würden sich die Wähler nicht in dem verkniffenen, kleinen Schülergesicht Bushs wiedererkennen müssen. Diese Geschichte war erledigt.

Gore konnte gleich loslegen. Seine Regierung nahm ihre Arbeit in ruhigem Fahrwasser auf, und dabei blieb es. Die politischen Führer der Republikaner beider Häuser, die ihre Mehrheit nur knapp hatten halten können, warteten darauf, dass Gore ins Straucheln kommen würde; den Gefallen tat er ihnen nicht. Und schon bald spielten sie das Spiel mit. Mit drei Neuernennungen zum Obersten Gerichtshof wurde das gemäßigte Vorgehen der Demokraten konsolidiert, was einer Stärkung sowohl der Individualrechte wie der Bundeskompetenzen gleichkam. Die Rechtsaußen auf den Richterbänken – die Bundesrichter Antonin Scalia und Clarence Thomas – waren politisch isoliert, als auch der noch von Reagan ernannte Bundesrichter Anthony Kennedy immer häufiger mit dem Block abstimmte, den der Oberste Bundesrichter Stephen Breyer anführte, seit er unlängst in dieses Amt befördert worden war.

Seine Wiederwahl im Jahre 2004 im Blick, sammelte Gore unauffällig riesige Summen verbotener Parteispenden, während er zugleich unter viel Mediengetöse ein Gesetz zur Novellierung der Parteispendenpraxis durchbrachte, das entsprechend der Vorlage der Abgeordneten McCain und Feingold genau das unter Strafe stellte, was er gerade getan hatte. Als er das Gesetz schließlich unterzeichnete, waren die Republikaner die Dummen. Die Wirtschaft expandierte nach wie vor mit einer Wachstumsrate, die sogar der scheidende Zentralbankpräsident Alan Greenspan im Einklang mit der Vorgabe einer Nullinflation sah. Die Arbeitslosenrate fiel auf unter drei Prozent. Behutsam brachte Gore ein weitreichendes Paket von Anreizen und Maßnahmen ein, dank deren die Zahl der Bürger ohne jegliche Krankenversicherung nach und nach gesenkt wurde. Schon vor längerer Zeit hatte das Land über ein umfassendes Gesundheitsprogramm für die gesamte Bevölkerung nachgedacht.

Bill Clinton hatte diese Bühne geschaffen und dann einen Abgang gemacht; ab sofort war er unnötig, ja unerwünscht. Während die Presse an Präsident Gore rühmte, dass er wie damals Reagan mit den Medien und der Opposition im Kongress gleichermaßen gut umzugehen wusste, zog Clinton immer wieder einen Artikel von Robert Scheer, dem Kolumnisten der Los Angeles Times, aus seiner Brieftasche. „Man kann sich nur wundern, was für ein Schlappschwanz dieser Gore doch ist,“ hatte Scheer im August 2000 geschrieben. „Anstatt die Arbeit einer Regierung zu verteidigen, die wirklich Lob verdient, sucht er sich als Vizepräsidenten den Senator von Connecticut, Joseph Lieberman, aus, der an Clinton nur herumnörgelt.“ Wie immer überschlug er die nächsten Zeilen bis zum vierten Absatz: „Tatsache ist, Clinton“ – und an dieser Stelle las er etwas langsamer – „war ... ein ... großer ... Präsident, dessen Amtszeit sich durch acht Jahre glänzenden Wohlstands und realer Fortschritte hin zu einem Weltfrieden auszeichnet. Als die Republikaner an der Regierung waren, wurden gelehrte Bücher über die Notwendigkeit geschrieben, Japanisch zu lernen. Jetzt, da Clinton geht, suchen die Japaner verzweifelt die US-Wirtschaft zu übertreffen. Die äußerste Rechte hat Clinton nicht hochkommen lassen, und von Newt Gingrich blieb nichts als eine blasse Erinnerung ...“

An dieser Stelle hörte Clinton jedes Mal auf zu lesen. Auch er war ja jetzt nur noch eine blasse Erinnerung. Die Behelfsgebäude für seine Präsidentenbibliothek standen längst, mitsamt den von George Lukas’ Star-Wars-Team von „Industrial Light and Magic“ installierten Kommunikationsbildschirmen. Aber Clinton war es schon bald leid, sich mit erwachsenen Menschen zu beschäftigen, die doch ständig nur fragten, wie er sich als „Mr. Hillary Clinton“ fühle – jetzt, da sie in Washington sei und er nicht. Dabei schienen sich deren Kinder eher zurückzuhalten, als ob die Eltern ihnen gesteckt hätten, dass dieser sehr bedeutende Mann einmal etwas sehr Schlimmes gemacht hatte. Er war sie leid, seine Mitbürger, ganz zu schweigen von dem endlosen Defilee der Möchtegern-Monikas. Clinton spielte ’ne Menge Golf, und er setzte Gewicht an. Die Sommer verbrachte er, wie er es so viele Jahre getan hatte, auf der Insel Martha’s Vineyard, im Kreis jener Bekannten, die ihn einst so warmherzig als besten Freund des Hauses aufgenommen hatten. Aber eines Tages, nachdem er seinem Gastgeber William Styron erklärt hatte, dass er kurz hinauswolle, dann aber den Spaziergang doch vergessen hatte, bekam er zufällig das Gelächter des Großromanciers mit, der mit dem Rest der üblichen Mannschaft – Carly Simon, Paul Simon, David Remnick vom New Yorker und Lewis Lapham von Harper’s Magazine – auf der Veranda stand. „Er wird alt“, meinte Styron und versuchte sich im Akzent von Arkansas. „Er ist im Abmarsch, und nichts kommt zurück. Und“, fuhr er, wieder normal redend, fort, „es sieht nicht so aus, als ob er je etwas geschrieben hätte!“ Das war nur allzu wahr: Clintons Buchprojekt „My Hope for America“ war von allen New Yorker Verlegern verworfen worden. Und die Louisiana University Press bot nicht genug, um einen Ghostwriter zu bezahlen.

An jenem Tag im Hause Styrons zerbrach etwas in ihm. Er ertappte sich dabei, dass er zu oft „Lone Pilgrim“ auflegte – den unheimlichen, leisen Song über eine Stimme aus dem Grab, mit dem Bob Dylans Album „World Gone Wrong“ von 1993 endet. Sobald er versuchte, an etwas anderes zu denken, fielen ihm Geschichten über Elvis ein, wie er seinen Tod vortäuschte, um sich dem Würgegriff des Ruhms zu entwinden, und zugleich dabei versuchte, „mit seinen Leuten Zwiesprache zu halten“. Er reiste inkognito durchs Land, lebte von Gelegenheitsarbeiten in der, wie es Märchenerzähler nennen, „oftmals verworrenen Welt der Nichtversicherten“.

Er ließ sich einen Bart wachsen, entwischte seinen Schutzengeln vom Geheimdienst und begab sich nach Graceland. Danach besuchte er Elvis’ Geburtsort Tupelo. Er empfand nichts. Die Leute sahen ihn manchmal belustigt an, aber wenn sie ihn überhaupt erkannten, ließen sie sich nichts anmerken. Es war, als ob die Leute nunmehr sein Privatleben respektierten, nachdem ihm während seiner Präsidentschaft jedes Fitzelchen Privatheit entrissen worden war – oder sie kümmerten sich einfach nicht mehr drum.

Er dachte an „Double Whammy“, die lustige Mordgeschichte Carl Hiassens. Darin macht sich der idealistische Gouverneur Floridas eines schönen Tages davon, als er darauf kommt, dass der ganze Staat in der Hand von Immobilienhaien ist. So verwandelt er sich in eine Sumpfratte namens Skink und lebt fortan von Abfall. Gott weiß, wie oft ihn diese Geschichte im Laufe seiner Amtszeit erfreut hatte. Er dachte auch an „Sullivan’s Travels“, den Uraltfilm des Regisseurs Preston Sturges, wo der reiche Komödienregisseur Sullivan aus Hollywood – im Film war das Joel McCrae, mit dem auch er eine gewisse Ähnlichkeit hatte – eines Tages zum Landstreicher wird. Sullivan will herausfinden, welche Sorgen die Menschen wirklich haben; er lebt auf Güterzügen, schlägt sich mit einem Eisenbahnpolizisten und landet schließlich im Knast.

Clinton verließ den Elvis-Geburtsort. Zuerst machte er auf Anhalter, dann ging er zu Fuß. Nachts schlief er im Freien, sonst lebte er von dem Geld, das er bei sich hatte. Nachdem er so einige Tage auf der Straße gelebt hatte, sah er aus wie ein alter irischer Trunkenbold: rötliche Gesichtsfarbe, der Bauch hing ihm über dem Gürtel, sein Haar war grau und verfilzt. Im Park einer Stadt im nördlichen Louisiana ließ er die Flasche mit einer Horde weißer Tippelbrüder kreisen. Dort gab er vor, dass er den Stoff seine Kehle hinuntergluckern lasse, während er in Wirklichkeit seine Zunge gegen die Flaschenöffnung presste. Niemand hatte ihm je die Geschichte abgenommen, dass er zwar Marihuana geraucht, aber nicht inhaliert habe – natürlich stimmte sie. Die Selbstbeherrschung würde er nie verlieren. Dies hier war ein Experiment.

Zwei der Männer sprangen ihn von hinten an und fingen an, ihm die Hose runterzuziehen, während ein dritter seine eigene Hose runterließ. Er nahm die Flasche und schlug sie dem einen auf den Kopf; der fiel tot um. Alle rannten weg.

Danach glich er Judge Crater, dem spurlos verschwundenen Richter. Er war der Mann, der eines Abends vor die Tür ging, um eine Zigarre zu rauchen, und niemals zurückkehrte. Sein Leben war ein Witz; man hielt ihn für tot. Hillary und Chelsea legten eine überzeugende Trauermiene auf, aber natürlich wussten sie über alles Bescheid. Sie wussten, in welchem Bundesstaat er sich gerade aufhielt. Sie wussten, welche Kleinstadt bis zu dem Tag keinen Anwalt hatte, wo der abgezehrte Kerl mit dem krummen Rücken, dem zweifelhaften, doch überraschend guten Juraabschluss aufkreuzte und dann Testamente aufsetzte, Streitigkeiten beilegte oder Urkunden ausfertigte. Nur die Klagen über Betrug und Irreführung leitete er an Leute weiter, die besser damit umgehen konnten und von denen man vermutlich weniger den Nachweis darüber gefordert hätte, wer sie waren. Er schlug sich so durch.

Wohl hatte Gore so etwas wie eine Ahnung, aber er fragte nicht nach. Er dachte sich, dass der Mann eines Tages sowieso wieder auf der Bildfläche erscheinen würde. Sonderlich erbaut war er davon nicht. Clinton wunderte sich über Gore, er fragte sich, was er überhaupt noch von ihm zu erwarten habe, ansonsten aber las er hauptsächlich Romane und schaute sich Videofilme an. „Young Mr. Lincoln“ lief fast die ganze Zeit. Er mochte den Film mit Henry Fonda in der Hauptrolle, wie dieser den tobenden Lynchmob zum Schweigen bringt, ganz wie er selbst es ja auch getan hatte. Damals hatte er den Lynchmob überall im Land und in allen tugendsamen Bürgern vermutet: vom dickleibigen Starr bis zur ganzen übrigen Mischpoke. Stets hatten sie Gelassenheit zur Schau gestellt, während sie vor Freude innerlich ganz aufgeregt waren. Wie Lincoln im Film hatte er dagegen erst mal abgewartet, bis aus dem Mob eine Menschenmenge und dann ein Publikum geworden war, das ihm zuhörte und sich die Sache durch den Kopf gehen ließ. Ihm gefiel der Film. Aber noch mehr gefiel ihm „Gefährliche Brandung“ mit Keanu Reeves als FBI-Agent, der einen Haufen Surfer unterwandert, die sich als Gang der „Expräsidenten“ entpuppt, die niemand mehr stoppen kann. Am Ende ist es eine Bankräuberbande mit Halloweenmasken von Nixon, Ford, Carter und Reagan über den Gesichtern, bei der Reagan selbstverständlich den Ton angibt.

Der Roman, den er am häufigsten las, obwohl er ihm am wenigsten zusagte, war Fitzgeralds „Zärtlich ist die Nacht“. Er sah darin hauptsächlich eine Geschichte über das Verschwinden, darüber, dass einer alles gibt und alle anderen nur nehmen – selbstverständlich nehmen, als ob es ihnen zustünde – und dabei nichts an Schulden zurückblieb. Dick Diver, die Hauptfigur, wusste natürlich Bescheid. Und doch gestand er sich nie ein, dass er den dummen August für Leute abgab, die sich erst einmal an seiner glanzvollen Persönlichkeit, am Strahlen seiner Augen gestärkt hatten, um ihn danach auf die Straße zu setzen und keines Blickes mehr zu würdigen. Auch Clinton mochte sich das nicht eingestehen, aber auch er wusste es, und darum hörte er jedes Mal, ein ums andere Jahr, gegen Ende des Buches mit der Lektüre auf. Ohne erst die Wörter in seinen Kopf hineinzulassen, wusste er, wie es ausging: Dick Diver beantwortet die Briefe seiner Frau nicht mehr, in denen sie ihm Geld anbietet. Er teilt ihr lediglich mit, dass er eine Praxis in einer Kleinstadt habe, dass er nichts brauche; und sie sieht in ihm jenen General Ulysses S. Grant, der in seiner Heimatstadt in Missouri auf den rechten Augenblick wartete. Während die Armee der Unionsstaaten von einer Katastrophe in die andere schlingerte, wartete er darauf, dass Lincoln ihn zurückrufen würde. Aber da war keine Katastrophe, und ein Ruf erging auch nie.

Übersetzung von Rolf Schubert.Greil Marcus ist amerikanischer Poptheoretiker und Autor; zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören die Bücher „Lipstick Traces“, „Mystery Train“ und „Dead Elvis“. – Der erste Teil über Clintons Zukunft unter George W. Bush erschien am 1. 11.

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