: Liebessucht made in USA
37 Wochen lang befand sich Norwoods Analyse von zerstörerischen Beziehungen, in die sich Frauen suchtartig verstricken, auf dem ersten Platz der Bestsellerliste der New York Times. Zwei Millionen Exemplare des Buches wurden bisher in den USA verkauft, und das Interesse der Frauen hält an, ist nicht etwa eine Modeerscheinung, meint Ingrid Grieger, Therapeutin an der Universität Virginia. Frauen finden sich auf jeder Seite des Buches wieder, können sich mit den von Norwood beschriebenen Fallstudien identifizieren, kommen zu der Feststellung, auch sie lieben oder haben zu sehr geliebt. Daß Frauen in Beziehungen mehr geben als Männer, zur geduldigen, aufopfernden Mutterfigur werden, sich auch aus destruktiven Beziehungen schlecht lösen, ist nicht neu. Neu und ein Durchbruch in der Psychotherapie ist es dagegen laut Ingrid Grieger, den Hang, solche Beziehungen wieder und wieder einzugehen, als Sucht, vergleichbar der Sucht nach Alkohol, Drogen oder Medikamenten, zu sehen und als solche zu behandeln. Schwieriger jedoch ist es, das muß auch Frau Grieger zugeben, die Männersucht zu diagnostizieren. Immerhin sind Norwoods Fallstudien so weit gestreut, daß wohl tatsächlich fast jede Frau sich in Nuancen wiedererkennen muß: Denn wenn Frauen aus einem Elternhaus kommen, in dem ein Elternteil drogen– oder alkoholsüchtig war, der Vater autoritär, gefühlslos oder nur häufig abwesend, die Mutter hilflos, in sich gekehrt, abhängig oder manipulierend, dann laufen sie Gefahr, zu sehr zu lieben. Kein Wunder also, daß sich nach der Lektüre dieses Buches eine ganze Generation amerikanischer Frauen, Frauen zwischen 28 und 40, gebildet, selbständig, beruflich erfolgreich, als süchtig erkennt. Der Unfall, Eltern zu besitzen „Unsere Schwächen werden herausgekehrt, unsere empfindlichen Seiten verherrlicht, wir werden aufgefordert, therapeutische Hilfe für unsere Gefühle und Reaktionen zu suchen, die wir selbst verarbeiten können“, so eine der wenigen kritischen Rezensorinnen des Buches, - denn wir alle erlitten diesen „unvermeidbaren Unfall in unserer Vergangenheit, Eltern zu besitzen“. „Wenn Frauen zu sehr lieben“ ist nur eines unter vielen therapeutischen Büchern, die in den letzten zwei Jahren den amerikanischen Markt erobert haben. Therapeuten verdienen am psychotherapeutischen Zeitalter: Jede vierte Person in ihrer kalifornischen Heimatstadt, belustigte sich Norwood in einem Interview, ist in irgendeiner Weise als Therapeut tätig. Einfacher ist es dieser Tage, so schreibt Newsweek–Magazin, Eintritt zu einem Broadwayhit zu bekommen als zum Betty Ford– Zentrum für Alkoholabhängige. Für die amerikanische Mittelklasse ist es „in“, sich von Therapie zu Therapie zu bewegen, Geld spielt dabei keine Rolle, auch für Wochenendseminare für Frauen, die zu sehr lieben, müssen zwischen fünfzig und zweihundert Dollar hingeblättert werden. Mitglieder der amerikanischen Linken beklagen, daß die therapeutische Mentalität zur „dominanten Ideologie“ geworden ist, „radikaler Individualismus“ und Entpolitisierung in den Präsidentschaftsjahren Ronald Reagans den fortschrittlichen Bewegungen den Wind aus den Segeln genommen hat. Tatsächlich hätte die Frauenbewegung einiges zu tun: Vier Millionen zusätzliche Frauen und drei Millionen Kinder sind seit dem Amtsantritt Präsident Reagans unter die behördlich festgelegte Armutsgrenze geraten. Während die „Feminisierung der Arbeit“ das in den 70er Jahren Erreichte für viele Frauen unerreichbar werden läßt, klinken sich zahlreiche andere aus der Bewegung aus und wenden sich der eigenen Therapie zu. Auch Ingrid Grieger bekennt mit einem Hauch von Wehmut, daß es in den Therapiegruppen für Frauen, die sie leitet, lediglich um Selbstbewußtseins– und nicht Bewußtseinsbildung geht. Doch habe die Frauenbewegung offensichtlich in dieser Hinsicht ein Vakuum hinterlassen. Wie sonst ließe sich erklären, daß Frauen, die eine glänzende Ausbildung haben, Frauen, die als Managerinnen, Rechtsanwältinnen und Ärztinnen erfolgreich sind, Therapie suchen, weil sie „zu sehr lieben“? Silvia Sanides–Kilian
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