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Lichtbilder gegen das Vergessen

Der kalifornische Künstler Shimon Attie projiziert historische Fotografien auf Häuserfassaden im Scheunenviertel / Hier lebten vor allem jüdische Einwanderer aus Osteuropa  ■ Von Rüdiger Soldt

Die Hausnummer 43 ist auf dem Emailleschild nicht mehr zu erkennen. Irgend jemand hat sie mit dünnen Pinselstrichen in blauer Farbe auf die hölzerne Haustür gemalt. Der Putz ist an vielen Stellen der Fassade abgebröckelt, das Mauerwerk aus roten Ziegelsteinen liegt frei. Auch die vorgeblendeten Vordächer der Fenster haben Risse und müßten mit Mörtel ausgebessert werden.

Daran, daß in dem zwischen 1860 und 1870 gebauten Haus um 1920 eine hebräische Buchhandlung war, erinnert heute nichts mehr. Kein blasser hebräischer Schriftzug deutet auf die Geschichte des Scheunenviertels, fünf Gehminuten vom Alexanderplatz.

Früher hieß die Almstadtstraße 43 Grenadierstraße 7. Früher lebten in diesem Viertel, dem Scheunenviertel, vor allem jüdische Einwanderer aus Osteuropa. „Finstere Medine“, wie das Quartier jiddisch hieß, zwischen Lothringerstraße und Mulackstraße, war auch das Armen- und Hurenviertel der zwanziger Jahre. In der Grenadierstraße befanden sich Bäckereien, Schustereien und koschere Speisestuben. Hier hatten sich die ostjüdischen Einwanderer eine Infrastruktur geschaffen, die der eines „Stetls“ (Städtchen) glich.

Heute gibt es gerade noch 35 Häuser, eingezwängt zwischen Plattenbauten aus den 80er Jahren. Nichts ist übriggeblieben von der jüdischen Lebenswelt des Viertels. Wer zur kleinen Zahl derer gehörte, die sich davor retten konnten, ins Konzentrationslager deportiert zu werden, kehrte nach 1945 nicht zurück. Juden, die über die Geschichte des Scheunenviertels erzählen könnten, gibt es nicht mehr. Und Häuser sind nur stumme Zeugen.

„Ich weiß, wo ich wohne“, sagt eine 56jährige Frau, „doch daß es das Scheunenviertel ist, habe ich mir nur angelesen.“ Selbst der arbeitslose, zu DDR-Zeiten Marxismus-Leninismus-geschulte Historiker André Fechner, der seit 1988 in der Almstadtstraße wohnt, kann über das Scheunenviertel nur erzählen, was zur Allgemeinbildung gehört: „Ab und zu entdeckt man vielleicht mal einen alten Hauseingang, aber mit der Geschichte des Scheunenviertels verbinde ich nicht viel. Wenn sich die Doppeldecker-Busse der Touristikunternehmen hier durch die enge Straße zwängen, möchte ich mich am liebsten mit einer Banane ans Fenster stellen“, sagt Fechner. Die heutigen Bewohner des Scheunenviertels ahnen mehr, als daß sie wissen, wie ihr Viertel vor dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen hat.

Der jüdisch-amerikanische Fotokünstler Shimon Attie hat 1991 mit einer Fotoaktion versucht, diese alltägliche Geschichtslosigkeit im Viertel aufzubrechen: Er projizierte Fotos aus den 20er Jahren auf die zerfallenden Fassaden alter Häuser – wie zum Beispiel das Haus Nummer 43. Durch Atties Projektionen wurden plötzlich Schriftzüge und längst zugemauerte Kellereingänge wieder sichtbar. Für die Dauer der Schwarzweißprojektion war die Geschichte eines Viertels sichtbar gemacht. Was Attie mit Projektoren an die Häuserwände warf, war nicht mehr zu verdrängen.

Kamera und Projektoren waren für Attie „archäologische Instrumente“, um an die „eigentümliche Anwesenheit der Abwesenden“ (Eike Geisel) zu erinnern. Auf die Fassade von Nummer 43 projizierte Attie ein Foto, das einen alten hebräischen Buchladen zeigte. Trotz zerfallener Fassade und weggebrochenem Treppengeländer ist das Haus noch bewohnt. Einer der Bewohner ist der Musiker Siegfried Schneider. Er zog mit seiner Frau und seinem Sohn 1990 in die kleine Wohnung im ersten Stock. Seine Vormieter hatten Berlin kurz nach der Wende in Richtung Hannover verlassen: „Für mich ist die Geschichte hier nicht präsent. Erst als ich die historischen Aufnahmen gesehen habe, die Attie dann auf die Fassaden projiziert hat, habe ich mir Gedanken gemacht.“

Vom 9. bis zum 21. November erinnert Shimon Attie mit der Foto-Installation „Züge“ im Dresdner Hauptbahnhof an die jüdischen Bürger, die während der NS-Zeit deportiert wurden. Das Buch Shimon Atties „Die Schrift an der Wand“ mit den Fotos aus dem Scheunenviertel erscheint in der Edition Braus in Heidelberg.

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