: Letztes Aufbäumen
Die Studenten, die gestern am späten Vormittag von ihren Hochschulen aus ins Pekinger Stadtzentrum zogen, wurden nur noch vereinzelt mit Hochrufen und Applaus der Pekinger Bevölkerung begleitet. Viele Passanten blickten natürlich auf, als eine Vogelscheuche mit dem Konterfei des ungeliebten Ministerpräsidenten Li Peng durch die Straßen getragen wurde. Doch die breite Unterstützung der Bevölkerung hat nachgelassen. Massenproteste, an denen letzte Woche noch eine Million Menschen teilgenommen haben, schließen Beobachter vorerst aus. „Ich habe Angst“, meinte eine Studentin auf die Frage, warum sie nicht mitdemonstriert habe. Die Partei hat mit einer Mischung von Propaganda und Verunglimpfung der Reformer in der Partei und der Demonstranten auf der Straße eine Atmosphäre der Unsicherheit verbreitet.
Immer wieder hört man Gerüchte, es habe schon Verhaftungen gegeben, vor allem unter den Mitgliedern der autonomen Arbeiterkomitees.
Dennoch trafen am Sonntag noch immer Zehntausende von Studenten aus dem ganzen Land am Pekinger Hauptbahnhof ein. Andere reisen währenddessen schon wieder ab - ein enormes Problem für die Eisenbahnverwaltung. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens haben sich die Studentenführer dafür ausgesprochen, das Sit-in am Dienstag zu beenden; es ist davon auszugehen, daß dieser Vorschlag angenommen wird. Auf dem Platz sind die hygienischen Bedingungen noch schlechter geworden. „Sie essen Bitterkeit“, kommentiert ein Dozent aus Shenyang den Protest, nachdem er die auf dem Platz campierende Gruppe seiner Hochsschule aufgesucht hatte. Fast schüchtern schon - und subversiv - kleben neben dem Eingangstor des Fremdsprachen-Institutsgebäudes in Peking vier chinesische Schriftzeichen: „Es lebe die Freiheit.“
Was wird kommen? Wie viele Verhaftungen wird es geben? Wird man nur einige bekannte Dissidenten herauspicken oder auch die Studentenführer? - das sind die bangen Fragen.
Eine ganze Generation von Hochschülern kann nicht eingesperrt werden - aus ganz simplen Platzgründen! Wird man die Ansätze einer Gegenöffentlichkeit, wie sie jetzt an vielen Hochschulen bestand, verteidigen können? Wie stark, wie konkret wird die Unterdrückung werden? - Die Studenten scheinen noch wenige Antworten zu haben. Wie wird es also weitergehen mit der patriotischen Demokratiebewegung? Wird es passiven Widerstand geben - hie und da und immer wieder? Oder werden manche in den „Untergrund“ abwandern? Aber ist ein Untergrund im heutigen China denkbar, organisierbar? Wie schimpfte doch ein Taxifahrer: „Es war ein Fehler, einen Hungerstreik zu machen! Die Studenten hätten viel essen sollen, damit sie stark werden und kämpfen können!“
Inzwischen versucht die Befreiungsarmee, ihr angekratztes Image beim Volk wieder aufzupolieren. „Wir sind die Armee des Volkes, und wir dienen dem Volk wie in der Vergangenheit. Wie könnten wir auf unsere eigenen Leute schießen?“, so ein Offizier. Man erfährt, daß die Truppen ideologische Erziehung erhalten... Gleichzeitig erinnert man die Pekinger daran, daß 1949 die Truppen der Volksbefreiungsarmee doch auch willkommen geheißen wurden. Ironie der Geschichte! Auch an der Marco-Polo-Brücke, die 1937 japanische Truppen überquerten, was dann zum chinesisch -japanischen Krieg führte, lagern wieder Soldaten. Ein alter Bauer aus dem Dorf: „Das ist fast wie damals.“
Reinhold Wandel
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