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Lesen auf kleinen Hockern

Ob sich die Stadtbibliothek Bremen in ihren neuen Räumen in Zukunft einen Lesesaal leisten wird, diese Frage bleibt noch offen. Sicher trifft man auf ein solches Ambiente, wenn man die Räume der „Galerie für Gegenwartskunst“ betritt.

Der 1969 in Südengland geborene Simon Starling hat mit sechs Lampen und 12 Hockern hier eine Atmosphäre geschaffen, die zum Verweilen einladen soll. Doch anders als in einer Bibliothek, ist die Auswahl der Literatur beschränkt auf das Studium seines eigenen Werkes. Auf von dem Künstler selbst produzierten Stühlen und unter ebenfalls von ihm nach einem Entwurf von Poul Henningsen erstellten Lampen, soll der Besucher die Komplexität seines Werkes ergründen.

Was zunächst befremdlich erscheint, offenbart sich sogleich, hat man sich einmal von der herkömmlichen Vorstellung von dem, was Kunst ist, gelöst und verstanden, dass der Künstler ganz alltäglichen Dingen auf der Spur ist. Am Beispiel der Hocker, die auf ein Fundstück aus Rumänien zurückgehen, läßt sich Starlings Absicht erfahren. Der Künstler hat mit größter Sorgfalt und Akribie das skurrile rumänische Original vervielfältigt und zu einem Massenprodukt gemacht. Der einstige Erfinder hätte wohl kaum damit gerechnet, dass seinem Höckerchen einmal solche Ehre zuteil werden würde.

Umgekehrt verfährt Starling mit den heute äußerst wertvollen Lampen des dänischen Designers Henningsens. Er greift das Prinzip der Leuchten auf, um es aus vorgefundenen und gebrauchten Lampenschirmen zu reproduzieren. Ein ursprünglich auf Massenproduktion angelegtes Designerobjekt wird zum Einzelstück. Das Verfahren ergründet das Herkömmliche zu seinen Ursprüngen, um deren Geschichte zu erzählen.

Die Transformation von Alltagsgegenständen in unterschiedliche Richtungen zeugt von dem Neuverständnis eines Künstlers, der allgemeingültige Prozesse spielerisch verfolgt und sie gleichzeitig offenbart. Starling ist ein aufmerksamer Beobachter, seine raumgreifenden Installationen eröffnen ungewohnte Assoziationsketten. In der Galerie von Barbara Claassen-Schmal schafft er einen Kontextraum, der die Möglichkeit bietet, der Wandlung beizuwohnen.

Nebenbei sei bemerkt, daß auch der Bibliothek ein Starlingscher Leseraum gut stehen würde.

Susanne Hinrichs

Simon Starling Reading Room, Galerie für Gegenwartskunst – Barbara Claassen-Schmal, Bleicherstraße 55, noch bis 10.10.

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