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Lenin ja, nix Dada

■ Wie ein Professor nachweist, daß Lenin Dada-Gründer war

Als Groucho Marx gefragt wurde, was es denn zu bedeuten habe, daß Wladimir Iljitsch im Jahre 1916 einige Zeit in der Züricher Spiegelgasse Nr.14 wohnte, war seine Antwort: Es habe zu bedeuten, daß er dort wohnte. Eine aufschlußreiche Antwort des Chefs der Marx-Brothers (die wenigsten wissen, daß Groucho Marx im zarten Alter von 21 Jahren in Zürich weilte und er der eigentliche Dada-Gründer ist), die natürlich sofort die nächste Frage zur Folge hatte: Was es denn zu bedeuten habe, daß nur wenige Meter von Lenins Domizil entfernt zur gleichen Zeit der Club Voltaire gegründet wurde, die Urzelle des Dadaismus? Nie um eine Antwort verlegen, meinte Groucho Marx: Das habe zu bedeuten, daß die beiden Häuser dereinst nur wenige Meter voneinander entfernt gebaut wurden. Zugegeben: Die Geschichte mit Groucho Marx ist frei erfunden, womit man aber direkt bei dem gerade erschienenen Buch Lenin dada von Dominique Noguez wäre. Auf den Gedanken, Lenin sei der eigentliche Dada-Gründer gewesen, ist er während einer langweiligen Seminarstunde an der Sorbonne gekommen sein — dort unterrichtet er. Flugs wurde er zum Kommissar, und jetzt liegt das Ergebnis auch in deutscher Sprache vor: Der Rechercheflop eines falschspielenden Kriminalisten.

Dominique Noguez meint es ernst, wenn er erzählt, Lenin sei Gründer, Kopf und radikalster Dada-Aktivist gewesen. Er stützt sich hauptsächlich auf die Briefe Lenins, Bemerkungen der Dada-Größen von Ball bis Huelsenbeck und Lenins Frau, Nadeshda Krupskaja. Seltsam nur: Was Noguez zur Untermauerung seiner These zusammenträgt, widerspricht ihr. Die Krupskaja erwähnt nie nächtliche Voltaire-Eskapaden ihres Gemahls, und die Ur- Dadaisten betonen sogar, Lenin nie persönlich begegnet zu sein. Trotzdem, für Noguez war Lenin anwesend, als der Club Voltaire eröffnet wurde, und — er sang gar russische Volkslieder auf der Bühne. Pech für Noguez, daß Lenin zur gleichen Zeit nachweislich in Bern weilte. Oder Glück! Denn das ist ein Fall für den Kommissar: Lenin setzte sich schnell in den Zug und weilte hier wie dort. Ein wichtiges Indiz — Lenin sei ein exzellenter Kenner von Zugfahrplänen gewesen, erzählt der Kommissar.

Derartige Recherchepirouetten ließen sich reihen, und so wundert es denn auch nicht, wenn Dominique Noguez aus den Widersprüchen des Machtpolitikers Lenin Dada-Akte macht: Die Liquidierungen etwa, die Lenin schon kurz nach der Oktoberrevolution befahl, obwohl er sich öffentlich dagegen aussprach. Jarrys König Ubu sei Lenins Vorbild gewesen, erzählt Noguez. Mit geradezu überschäumender Dada-Lust habe Lenin seine Gegner über die Klinge springen lassen. Daß es Lenin war, der in Wirklichkeit den König Ubu schrieb, hat der Kommissar leider nicht herausgefunden — aber Manuskripte des Ober-Dada Tristan Tzara sind in Wirklichkeit von Lenin, weist Noguez mittels graphologischer Vermutungen nach ...

Warum denn all dies referiert und nicht eines von Noguez substantiellen Argumenten diskutiert werde, könnte gefragt werden. Die Antwort ist schlicht: Es gibt keines, da Noguez das substantielle Argument und die theoretischen Schriften Lenins mied wie der Teufel das Weihwasser. Er weiß, warum, denn er wäre in arge Bedrängnis geraten und hätte die Welten wegerklären müssen, die zwischen Lenins dialektisch-materialistischer Philosophie eines sozialistischen Fortschritts und Dadas Negation jedes zielgerichteten Fortschreitens liegen. Was eines der Grundsteine von Lenins Denken war, legten die Dadaisten ad acta. Lenins Quelle der Erkenntnis hätte bei ihnen Lachen hervorgerufen.

Wie viele vor ihm, hat der Pariser Professor bemerkt, daß die Dadaisten eine Affinität zur russischen Revolution und Lenin hatten — wie später die französischen Surrealisten ihre politische Heimat in der KPF und der Resistance fanden. Der Umkehrschluß jedoch ist unzulässig und mit nichts zu belegen. Wie Lenin auf die Dadaisten reagiert hätte, wäre er ihnen jemals begegnet, führt Peter Weiss in seinem Stück Trotzki im Exil vor: Die Dada-Größen betreten Lenins Züricher Zimmer (übrigens eines der Beispiele gegen die vermessene Behauptung Noguez', die räumliche Züricher Nähe der beiden Geistesbewegungen am Anfang des Jahrhunderts sei bisher noch niemandem aufgefallen), und Lenin bezeichnet sie als „Pseudorevolutionäre“, nachdem sie ihre Kulturzerstörungstiraden vom Stapel ließen. Eine Fiktion des Peter Weiss, die der Wirklichkeit näher kommt als die kriminalistische Kleinarbeit Dominique Noguez'. Der Züricher Limmat Velag weist in einer editorischen Notiz darauf hin, „Quellen, Hinweise und Dokumente“ seien verifiziert worden. Das mag stimmen, aber darum geht es gar nicht. Kritikfähigkeit gegenüber der Montage-Euphorie des Autors wäre notwendig gewesen. Jürgen Berger

Dominique Noguez: Lenin dada. Aus dem Französischen von Jan Morgenthaler. Limmat Verlag, 203 Seiten, 28 DM.

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