: Lektion in Herzensbildung
■ Jiri Menzels „Ende der alten Zeiten“, ARD, um 23 Uhr, deutsche Erstaufführung
Es ist das Jahr 1918. Der eureiche Etikette-Buhler Stoklasa, Verwalter von Schloß Kratochvil (Kurzweil), bläst zur Jagd. Sein improvisierter Hofstaat hüpft durch den schloßeigenen Wald wie Mensch-ärgere-dich-nicht-Steinchen. Zum irdischen Glück fehlt ein Aristokrat, ein Fürst oder wenigstens ein Graf, der dem dekadenten Treiben allein durch seine Gegenwart die erstrebte Würde und Authentizität verleiht. Doch der nie gesehene Blaublüter vom Nachbarschloß gibt sich mit niederem Volk nicht ab. Schon gar nicht mit Dienstboten, die untertänigtreugehorsamste Einladungen zur bescheidenen Jagd überbringen. Die Lage scheint aussichtslos.
Um so größer ist die Überraschung, als die hungrige Jagdgesellschaft zu Tisch zurückkehrt und von einem rätselhaften, auf beiden Backen kauenden Gast jovial den Platz am eigenen Tisch gewiesen bekommt. Mit seinem respektvoll ein paar Meter abseits speisenden Diener erinnert der leicht verlottert ausschauende Besucher an Don Quichote. Selbstverständlich und lässig bringt er die irritierten Lakaien zum Springen, dirigiert die um Haltung ringende Gesellschaft wie Burschen und hält die Fäden des Tischgesprächs souverän in der Hand wie der Zeichner Neville in Greenaways Kontrakt des Zeichners. Es besteht kein Zweifel, der Mann ist ein Adliger.
Der sich als russischer Fürst Megalrogov vorstellende Vagabund läßt sich gerne als Gast einladen und stellt indessen den Ablauf bei Hofe auf den Kopf. Er verleiht dem Schloß Glanz und Ansehen und bestärkt damit Stoklasas Absicht, Kurzweil zu erwerben. Megalrogov bezaubert die Erzieherin Susanne und die Schlüsselverwalterin Cornelie. Am liebsten mögen die Kinder den stets zu Scherzen aufgelegten Lebemann. Unterdessen ranken sich jedoch Intrigen um seine rätselhafte Identität. Komplotte werden gegen den vermeintlichen Baron Münchhausen geschmiedet. Am Ende gelingt es dem an Kultur und Herzensbildung überlegenen Mystifikator jedoch immer, die verlorene Gunst zurückzugewinnen.
Der Film basiert auf Motiven des Romans von Vladislav Vancura. Wer Menzels derb-ironischen Stil aus Filmen wie Das Wildschwein ist los, Heimat süße Heimat oder den kürzlich ausgestrahlten Lerchen am Faden gewohnt ist, wird von der ätherischen, mystifizierenden, beinahe entrückten Atmosphäre von Ende der alten Zeiten sicher überrascht sein. Der große Tscheche legt in seinem 1989 gedrehten Film den Akzent stärker auf formale Kategorien. Beleuchtung und Farbgebung treten als stilistische Elemente in den Vordergrund. Die märchenartig hermetische Atmosphäre auf Schloß Kurzweil ist die stilisierte Sehnsucht nach einer Vergangenheit mit dem ironisch verklärten Blick auf die ordnungsstiftende Macht der Aristokratie.
Manfred Riepe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen