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Archiv-Artikel

Lebt er noch?

Ich denke an den Tag vor 15 Jahren, als ich Minou im Tierheim „adoptierte“. In kleinen Käfigen waren die Katzen ausgestellt. Wie Nutten im Puff, dachte ich. – „Was hat der denn?“, fragt der Mann mit dem Hund, und als er meine Tränen sieht: „Wollen Sie den töten lassen?“

von ULRIKE HEIDER

„Das ist mein Bolle“, sagt der Mann mit dem dicken alten Hund im Wartezimmer der Tierarztpraxis. „Herrchen geht viermal am Tag mit ihm in den Park, und kämmen tut er ihn auch viermal. Das mag der alles, nur seine Herztabletten will er nicht nehmen.“ Der Mann hat schräg stehende, freundliche Augen in einem verschrumpelten Gesicht. Sein Mantelsaum ist ausgefranst, und die Schnürsenkel seiner Turnschuhe schleifen am Boden. Ein Alkoholiker oder Sozialfall könnte dieser Tierhalter sein. Der Hund ist nass vom Regen, der seit der letzten Nacht wie die Sintflut über Berlin gekommen ist, und schaut mich neugierig aus trüben Pupillen an. „Glaub ja nicht“, sagt sein Mensch, „dass Herrchen ’nen nassen Hund streichelt. Nachher geht’s in die Wanne, und dann föhn ich dich trocken.“

Ich öffne den Reißverschluss meiner flugzeugtauglichen Katzentasche und streichle Minou, dem alles egal zu sein scheint. Nicht einmal vor dem Hund hat er Angst, den er sonst schon von weitem gerochen hätte. Erfolglos versuche ich, ihm ein Schnurren abzuringen. Am Morgen hat er noch laut maunzend um Essen gebeten, dann aber nichts genommen. In den letzten Tagen konnte er kaum mehr laufen und nicht einmal mit Hilfe eines Schemels auf seinen Lieblingssessel steigen. „Was hat der denn?“, fragt der Mann mit dem Hund, und als er meine Tränen sieht: „Wollen Sie den töten lassen?“ Ich wende das Gesicht zum Fenster und versuche die Fassung zu bewahren, indem ich mich auf den Regen konzentriere. Zum Glück kommt jetzt die Praxishilfe und bittet Hund und Halter ins Sprechzimmer.

Ich denke an den Tag vor fünfzehn Jahren, als ich Minou in einem New Yorker Tierheim „adoptierte“. In kleinen Käfigen waren da, meist verstört im Streusand ihrer Kisten hockend, die schönsten Katzen ausgestellt. Wie Nutten im Puff, dachte ich, und hätte am liebsten alle genommen. Dann galt es, einen langen Fragebogen auszufüllen. Ob ich die Katze zu kultischen Zwecken oder medizinischen Experimenten nutzen wolle, musste ich beantworten, aber auch wie ich sie füttern würde.

Es folgte das persönliche Interview mit zwei Tieradoptionsagentinnen, denen es vor allem um die Motivation meines Katzenwunsches ging. „Ich bin Single“, sagte ich, „ich möchte eine zärtliche Katze, die bei mir schläft.“ Mit den Worten „Dieser da wird das wohl machen“ empfahl man mir einen halbwüchsigen Kater mit blassrotem Fell und rosa Ohren. Um unsere Kompatibilität zu prüfen, wurden wir zusammen in einen großen Käfig gesperrt. Mein Kandidat warf mir einen schmelzenden Blick zu, schmiegte sich an mich und begann zu schnurren. Ich unterschrieb den Adoptionsvertrag, bezahlte zwanzig Dollar und trug Minou nach Hause.

Eine junge, attraktive Frau betritt das Wartezimmer. Da sie weder einen Schirm trägt noch nass ist, muss sie aus einem Taxi gekommen sein. Mit beiden Armen umfasst sie einen runden Katzenkorb aus Weidengeflecht, der mit einer schön gemusterten indischen Decke umwickelt ist. Von der Praxishilfe gefragt, ob sie schon mal da war, sagt die Frau: „Nein, aber mein Freund, damals mit der anderen Katze.“ Wir wechseln ein paar Worte, ich erwähne Minous hohes Alter, verschweige aber, warum ich hier bin.

Minou auf dem metallenen Behandlungstisch wehrt sich kaum. „Also, wir können es noch mal versuchen“, sagt die Tierärztin, „noch mal Blut abnehmen und dann volles Programm für Leber und Niere. Bei der Schilddrüse haben wir ja eine Verbesserung.“ Ich stammele etwas von unnötigem Leiden. „Dann sollten wir ihn lieber gehen lassen“, sagt die Ärztin leise. Nach meiner hilflos zustimmenden Geste tritt sie an ein Regal und zieht eine Spritze auf.

Die Praxis wird von einem Mutter-Tochter-Paar geführt. Zusammen mit mehreren Hunden und Katzen leben sie in den Räumen hinter dem Sprechzimmer. Schräg über dem Behandlungstisch auf einem Schrank sitzt fast immer ihre Lieblingskatze, eine schwarze Schönheit mit blauen Augen, die alles überwacht.

Die Tierärztin-Mutter, weit über siebzig, ist von raumfüllender Persönlichkeit. Sie spricht ebenso laut wie tief, duldet keinen Widerspruch und erteilt gern moralische Lektionen. Als ich am Telefon berichtete, dass Minou trotz der ihm mühsam aufgezwungenen Schilddrüsenhormone erschreckend schwach geworden war, meinte sie, ich hätte wohl noch nie eine alte Katze gesehen. Auf meine zögerliche Frage nach dem, was man in Amerika auch bei Tieren „euthanasia“ nennt, erklärte sie mir vorwurfsvoll: „Solange ein Tier frisst, will es nicht sterben. Sie kommunizieren doch noch mit ihm, oder?“

Mich wie eine Faschistin fühlend, verfiel ich ins Grübeln über den Unterschied der tierischen von der menschlichen Existenz. Ich bin gegen Sterbehilfe. Was veranlasst mich, ein Tier mit anderen Maßstäben zu messen? Warum habe ich nicht daran gedacht, dass Minou einmal altersschwach werden würde? Warum finde ich es nicht selbstverständlich, für ihn da zu sein bis er stirbt? In New York habe ich eine Freundin, deren unschön gealterter 19-jähriger Kater seit mehreren Jahren ein Pflegefall ist. Wolfgang, der auch Schilddrüsenhormone bekommt, leidet an schwerer Arthritis und muss zwischen Fressnapf und Schlafplatz hin- und hergetragen werden. Außerdem ist er senil und raubt seiner Besitzerin mit durchdringendem Dauermaunzen jede Nacht den Schlaf.

Vor zwanzig Jahren hätten weder er noch Minou Schilddrüsentabletten bekommen. Wolfgang wäre schon lange tot. In unserem Fall hätte der Tierarzt etwas von einem schönen Katzenleben gesagt, und dass das jetzt nur noch „Quälerei“ sei. Dann hätte er mich getröstet, und das Wort „einschläfern“ wäre gefallen. Ich hätte das Gefühl gehabt, aus Liebe zu meiner Katze einzuwilligen.

Mittlerweile leben immer mehr Menschen mit ihren Haustieren wie in Partnerschafts- oder Liebesbeziehungen. In New York haben fast alle mittelständischen Singles Katzen oder Hunde. Sie verausgaben sich für Gesundheitsfutter, Dog Walker, Katzenhotels, Tierbeerdigungen und Tiergräber. Vom Veterinär wird erwartet, das Leben ihrer Lieblinge wie ein menschliches zu behandeln, also auch so lange wie möglich zu erhalten.

All das gilt natürlich nicht für die Mehrheit der anderen, für die Unterprivilegierten, die sich nie ein Haustier leisten konnten, oder auch für die vielen neu Verarmten. Nach Verlust des Jobs schaffen sie ihr Auto ab, lassen den Kanarienvogel fliegen, kippen das Aquarium ins Klo oder setzen die Katze im Park aus. Hier in Berlin werden fast jede Nacht Hunde über den Zaun des Tierheims in Falkenberg geworfen. Die Wartezimmer der Tierärzte leeren sich.

Nur Leute wie ich und die Frau, die trocken aus dem Regen kam, scheinen diese Zunft am Leben zu erhalten. Solche wiederum sind auch hierzulande umso bereiter, für die Liebe ihres tierischen Gefährten zu bezahlen, mit Geld und Zeit, mit Tränen und Trauer schließlich. Wie sich wohl der Alte vor mir den Unterhalt seines herzkranken Hundes von der Rente abknapst?

Zum Glück habe ich es diesmal nur mit der Tierärztin-Tochter zu tun. Sie ist eine sanfte Person von Mitte vierzig mit einer altmodischen Bubikopf-Frisur. In Gegenwart ihrer Mutter benimmt sie sich wie ein kleines Mädchen. Allein aber gewinnt sie enorm an Selbstbewusstsein und Persönlichkeit. „Es ist wohl besser so“, höre ich sie wie von Weitem sagen. „Sie wissen, er bekommt jetzt eine Narkose, aber so eine, die zum Tod führt.“ Minou liegt zusammengeringelt auf dem silbrigen Behandlungstisch, und ich liebe ihn mehr denn je. Er knurrt nur ganz wenig, als sich die Spritze in seinen Körper schiebt, und gibt dann jenen freundlich gurrenden Laut von sich, den er erst vor ein paar Monaten entwickelt hat. Teil eines lebenslangen Spracherwerbs zwecks Kommunikation mit mir, wie ich denke. „Tschüs, Minou“, sage ich und lege ein letztes Mal meinen Kopf an seinen. Dann richte ich mich auf, lasse die Tränen laufen und streichle ihn.

Ganz friedlich schläft Minou ein, behält aber die Augen halb offen. Irgendwann bekommt er eine zweite Spritze, nichts ändert sich. Ich streichle weiter. Tote Tiere, habe ich gehört, veränderten ihr Aussehen bis zur Unkenntlichkeit. Wie ein Putzlappen habe sein Hund ausgesehen, erzählte ein Freund. Minou aber ist noch immer schön, wie ein Katzenengelchen, denke ich in der Infantilisierung meines Schmerzes.

„Lebt er noch?“, frage ich dümmlich. „Nein“, antwortet die Tierärztin tonlos, die am Schreibtisch darauf wartet, dass ich meine Rechnung bezahle und gehe.

Im Wartezimmer die junge Frau von vorher. „Was ist?“, fragt sie erschrocken. „Ist totgemacht worden“, stottere ich, lasse mich auf einen Stuhl fallen und weine. Mit einer weit ausholenden Geste schlägt die Frau beide Hände vors Gesicht und bricht in Tränen aus.

Einen Moment schluchzen wir gemeinsam. Dann, während Minou wohl zum Verbrennen eingepackt wird, bleibt uns Zeit für ein kurzes Gespräch. „Ein paarmal im Leben stirbt die Katze“, sage ich, „vielleicht sollte man lieber einen Papagei halten.“ Sie und ihr Freund, erzählt die Frau, haben ihre alte Katze vor einem halben Jahr verloren. Wochenlang waren sie depressiv, trotz der jungen Katze, die sie vorbeugend angeschafft hatten. „Sie müssen darüber reden“, rät mir die Leidensgenossin.

Draußen vor dem Supermarkt bettelt eine obdachlose Punkerin mit ihrem schmuddeligen, gelben Hund. Ich stelle mir vor, wie er sie beschützt und wärmt, wo immer sie in diesen klammen Nächten mit ihm schlafen mag. Die Katzentasche über meiner Schulter ist ungewohnt leicht, als ich durch den Regen nach Hause gehe.

ULRIKE HEIDER lebt als freie Schriftstellerin in New York City und Berlin. Zuletzt erschien ihr autobiografischer Roman über Studentenbewegung und Spontiszene: „Keine Ruhe nach dem Sturm“, Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 228 Seiten, 16,85 Euro