„Lebensschützer“ zeigen Ärztin an: Über einen veralteten Paragrafen
Kristina Hänel muss bald vor Gericht, weil sie Frauen wissen ließ: Bei mir könnt ihr abtreiben. Politiker*innen forden eine Gesetzesänderung.
Eigentlich sei sie ein vorsichtiger Mensch, sagt Kristina Hänel über sich selbst und fügt hinzu: „Aber anscheinend bin ich jetzt richtig mutig“. Wie viele ihrer Kolleg*innen wurde die 61-jährige Ärztin von radikalen Abtreibungsgegner*innen angezeigt, weil sie Frauen auf ihrer Webseite darüber informiert, dass sie in ihrer Praxis Schwangerschaftsabbrüche durchführen lassen können. Nach deutschem Recht eine Straftat. Am kommenden Freitag muss Hänel vor dem Amtsgericht im hessischen Gießen erscheinen. Notfalls will sie sich durch alle gerichtlichen Instanzen kämpfen.
Abtreibungsgegner*innen machen sich ein Relikt im deutschen Strafrecht zunutze – den Paragrafen 219 a des Strafgesetzbuchs. Dieser stammt aus dem Jahr 1933 und diente ursprünglich dazu, jüdische und kommunistische Ärzte zu kriminalisieren. Noch heute verbietet er die „Werbung für den Abbruch einer Schwangerschaft“ – auch sachliche Informationen und das Auflisten des Abbruchs im Leistungsspektrum einer Praxis werden als Werben „des Vermögensvorteils wegen“ verstanden. Bei einer Anzeige nach Paragraf 219 a können den Ärzten eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder eine Geldstrafe drohen.
Es ist das dritte Mal, dass Abtreibungsgegner*innen Hänel anzeigen – zum ersten Mal muss sie auch vor Gericht. Sie sagt: „Jetzt, wo eine Veränderung tatsächlich greifbar scheint, sehe ich noch klarer, wie fürchterlich diese Situation eigentlich ist.“
Denn tatsächlich tut sich etwas: Hänels Petition auf change.org hatte bis Redaktionsschluss mehr als 69.000 Unterschriften, es gibt unzählige Unterstützergruppen, einen offenen Brief, den bisher etwa 60 Ärzt*innen unterschrieben haben und eine Webseite mit einem Spendenkonto für Hänel. Pro Familia fordert „den Gesetzgeber auf, zeitnah das Defizit bei der Information zum Schwangerschaftsabbruch zu beheben“. Am Tag von Hänels Gerichtsverhandlung sollen zwei Kundgebungen vor dem Amtsgericht Gießen stattfinden, um die Ärztin zu unterstützen.
Auch an der Politik geht der Paragraf 219 a nicht vorbei: Die Linksfraktion hat einen Gesetzentwurf erarbeitet. In dem Papier, das der taz vorliegt, fordert sie die „Aufhebung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche“. Durch die „sehr weitreichende Formulierung“ des Paragrafen und seinen Missbrauch durch Abtreibungsgegner*innen entstünde „ein Klima, das die Ärztinnen und Ärzte, Beratungsstellen und Schwangeren verunsichert und die Schieflage im geltenden Recht aufzeigt“.
Verboten aber straffrei
„Dieser unsinnige Paragraf hat lange ein Schattendasein geführt“, sagt Cornelia Möhring, frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion. „Aber jetzt wird er genutzt, um Ärztinnen und Ärzte auf eine Weise zu stigmatisieren wie in Zeiten, die wir eigentlich lange hinter uns geglaubt haben.“ Möhring selbst wird auf einer der Kundgebungen in Gießen sprechen.
Abtreibungsgegner*innen, die sich selbst gern als „Lebensschützer“ bezeichnen, nutzen den Paragrafen zunehmend systematisch, um Ärztinnen und Ärzte einzuschüchtern. Wie viele Fälle vor Gericht landen, ist unbekannt. Im Jahr 2006 wurde ein Arzt in Bayreuth verwarnt, 2008 eine Ärztin aus Nordrhein-Westfalen. 2015 kassierte Letztere sogar einen Strafbefehl, weil die Betreiber der Gelben Seiten sie ohne ihr Wissen unter „Schwangerschaftsabbruch“ verschlagwortet hatten. Sie zahlte 8.200 Euro Strafe. Auch 2010 gab es eine Verurteilung. Viele Verfahren werden unter Auflage von Zahlung mehrerer Hundert Euro eingestellt. Meistens raten Staatsanwaltschaften bei einer Anzeige dazu, den Eintrag von der Homepage zu nehmen.
Viele Ärzt*innen verzichten lieber gleich auf den Hinweis. Für Frauen, die einen Abbruch brauchen und sich im Netz informieren, bedeutet das, dass sie fast zwangsläufig auf den Webseiten der Abtreibungsgegner*innen landen.
Kristina Hänel, Ärztin
Auf Babykaust.de und Abtreiber.com etwa werden Abbrüche mit dem Holocaust gleichgesetzt und als „Mord“ bezeichnet, Ärzt*innen werden mit Name und Anschrift zwischen den Bildern blutiger Föten öffentlich an den Pranger gestellt. Hänel wird dort als „Tötungsspezialistin für ungeborene Kinder“ bezeichnet.
Der Paragraf 219 a soll verhindern, dass „der Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird“, erklärt die Gießener Staatsanwaltschaft. Für Hänel eine absurde Vorstellung. „Es ist doch niemand für Abtreibungen“, sagt sie. „Weder ich noch die Frauen, die zu mir kommen.“ Es gebe aber nun mal Situationen, in denen eine Frau eine Abtreibung brauche. „Es ist doch meine verdammte Pflicht, diese Frauen medizinisch zu versorgen.“
Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland verboten, aber straffrei. Wer sich in einer anerkannten Beratungsstelle beraten, dann eine dreitägige Bedenkfrist verstreichen und den Abbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen vornehmen lässt, wird nicht verfolgt. Dennoch zählen Schwangerschaftsabbrüche – und das „Werben“ dafür – zu den „Straftaten gegen das Leben“, im Strafgesetzbuch verortet hinter Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen. Das ist der Kompromiss, auf den sich Gegner*innen und Befürworter*innen einer Legalisierung im Bundestag 1995 geeinigt haben und an dem seither nicht gerüttelt wurde. Das liegt nicht zuletzt daran, dass auch Befürworter*innen einer Legalisierung fürchten, dass eine Neuregelung eher noch restriktiver ausfallen könnte.
„Wir bekommen zunehmend Probleme mit dem Paragrafen 219 a“, sagt die SPD-Abgeordnete Eva Högl. „Wenn die Frage, ob eine sachliche Information Werbung ist, Sache der Auslegung ist, dann werden die Gerichte das klären. Wenn nicht, gibt es gegebenenfalls gesetzgeberischen Bedarf.“ Sowohl für Frauen in Notsituationen als auch für Ärzt*innen sei es ungemein wichtig, dass es eine klare Rechtsgrundlage gebe.
Nur auf den ersten Blick vernünftig
„Es ist natürlich schwierig, sich in laufende Prozesse einzumischen“, sagt die Grünen-Abgeordnete Ulle Schauws. „Aber hier geht es um eine politische Haltungsfrage. Paragraf 219 a ist veraltet und die Möglichkeit, ihn so zu nutzen, wie es einige Lebensschützer tun, ist höchst problematisch.“ Auch Schauws wird zum Prozess nach Gießen fahren. Kristina Hänel gebühre für ihren Mut „Respekt, aber auch unsere politische und feministische Solidarität“. Sie will den Prozess verfolgen und dann sehen, ob und in welcher Form gesetzgeberisches Handeln sinnvoll erscheint. „Das sollte über die Fraktionen hinweg forciert werden“, sagt Schauws.
Auch in den Reihen der Liberalen sieht man Änderungsbedarf. „Für uns Freie Demokraten gehören sowohl das Angebot, wie auch die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zu einer flächendeckenden ärztlichen Grundversorgung. Frauen sollten einen wohnortnahen Zugang zu sicheren medizinischen Schwangerschaftsabbrüchen haben“, erklärt der FDP-Abgeordnete Hermann Otto Solms. „Wir treten für die freie Arztwahl ein und die ärztliche Freiberuflichkeit ist für uns ein hohes Gut.“
Skeptischere Töne kommen aus den Reihen der Union. Die nötigen Informationen erhielten betroffene Frauen durch die Ärzt*innen und die Beratungsstellen, erklärt Marcus Weinberg, frauenpolitischer Sprecher der Unions-Fraktion. „Das Werbeverbot soll Geschäftsmodelle mit Abtreibungen verhindern. Insofern halte ich es grundsätzlich für richtig.“
Elisabeth Winkelmeier-Becker, rechtspolitische Sprecherin der Fraktion, befürchtet bei einer Abschaffung des Werbeverbots eine Verharmlosung von Abtreibungen. „Man kann aber sicherlich darüber streiten, ob schon die sachliche Information auf der Homepage eines Arztes den Tatbestand erfüllt.“
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Rein juristisch erfülle die sachliche Information auf der Webseite die Definition des Werbens zum eigenen Vermögensvorteil, sagt Maria Wersig, Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbundes. „Der Schwangerschaftsabbruch ist eine Gesundheitsdienstleistung für Frauen. Darüber muss informiert werden dürfen und der tatsächliche Zugang muss gewährleistet sein.“ Der Fall und die große öffentliche Aufmerksamkeit dafür hätten das Potenzial, „grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen zu diesem Thema neu aufzurollen“.
„So ein Werbeverbot wirkt nur auf den ersten Blick vernünftig“, sagt Hänel. „Aber wenn man die Auswirkungen dieses Paragrafen begreift, dann muss eigentlich für jeden demokratisch denkenden Menschen klar werden, wie anachronistisch er ist.“
Sollte ihr Fall tatsächlich bis zum Bundesverfassungsgericht gehen, könnten die Richter dort das auch so sehen; diese hatten nämlich schon 2006 im Fall eines Arztes, der durch Flugblätter von Abtreibungsgegner*innen belästigt wurde, erklärt: „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können.“
Mitarbeit: Eiken Bruhn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“