: Lebensmittel vom Reißbrett
■ Europäischer Gerichtshof kippt Imitationsverbot für Milchprodukte
Als die EG-Scharfrichter das Reinheitsgebot für Bier kippten, schäumten die Stammtische von Passau bis Buxtehude. Die Freigabe für Milch-Imitate löst dagegen deutlich weniger Emotionen aus. Milch kann mit Bier eben nicht konkurrieren. Doch die Konsequenzen des Luxemburger Urteils sind beim Reinheitsgebot für Milchprodukte weit gravierender als beim Bier. Vor allem werden dem ohnehin kollabierenden Milchmarkt neben der Turbo-Kuh, die mit künstlichen Hormonen zum Riesen -Euter gepusht wird, jetzt auch noch Imitate zugemutet. Öl ins Feuer? Von wegen: Benzinlaster als Löschfahrzeuge.
Die vielzitierte „gute Butter“ hatte in der Bundesrepublik bisher immer eine Schlüsselstellung unter den Nahrungsmitteln. Sie gilt der modernen Agro-Industrie zum Trotz noch immer als Inbegriff hochwertiger Nahrung. Von daher dürften die Verbraucher mit einem natürlichen Mißtrauen an alle Imitate herangehen. Aber sie werden sich auf Dauer nicht gegen die künstlichen Milchprodukte aus der Euro-Küche schützen können. Wer sich eine Pizza kauft, kann auf keinem Etikett überprüfen, ob der Käse von der Kuh kommt oder aus der Soja-Plantage. Und auch die Trommeln für eine fett- und cholesterinarme Kost werden die Marktchancen der Imitate verbessern. Schließlich dürfte auch der niedrigere Ladenpreis den Umsatz der Soja-Produkte ankurbeln.
Mit Soja verfügen die Food-Designer über einen idealen Rohstoff: Billig, geschmacksneutral, universell einsetzbar. Mit ihm kann unter Mithilfe der Lebensmittel-Zusatzstoffe ein fast beliebiges Produkt konstruiert werden: Nahrung vom Reißbrett. Auf dem Etikett einer „gesunden“ Halbfett-Butter wird dann künftig neben der grasenden Kuh auf saftigen Almen folgendes stehen: enthält Wasser, pflanzliche Öle und Fette in veränderten Gewichtsanteilen, Gelatine, Magermilchpulver, Emulgatoren, Salz, Süßstoff, Konservierungsstoff, Sorbinsäure, Säureregulator, naturidentische Aromastoffe, Vitamine, Carotin. Früher nannte man das Lebensmittel -Fälschung, heute heißt es „Produktinnovation“. Guten Appetit allerseits.
Manfred Kriener
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