: Leben mit der Salsa-Falle
Welche Tanzschritte sollte eine Peruanerin beherrschen, die in Deutschland lebt? Welche Elektrogeräte sollte sie vielleicht besser nicht besitzen, wenn sie uns nicht enttäuschen will?
von MARIELLA CHECA
Der Mann war perfekt: groß, schlank, blond, blaue Augen, er unterrichtete Deutsch als Fremdsprache und noch dazu hatte er ein so großes Interesse an Lateinamerika, dass er schon angefangen hatte, Spanisch zu lernen. Offensichtlich fand er mich genauso interessant wie ich ihn, jedenfalls kamen wir ganz schnell miteinander ins Gespräch. Ich war erst einen Monat in Deutschland und hatte noch keinen richtigen Freundeskreis aufgebaut. Deswegen war ich der netten Mexikanerin so dankbar, die mich zu dieser Party eingeladen hatte. Die Freundschaft mit ihr hat sich im Lauf der Zeit immer mehr vertieft, so dass ich sie heute für meine beste Freundin halte. Aber die aufkeimende Liebesgeschichte scheiterte fast sofort: Manfred – so hieß der blonde Schlanke mit den blauen Augen – hatte auch Salsa-Unterricht genommen und erwartete von mir, dass ich ihm beim Tanzen folgen könne. Wieso auch nicht – schließlich sei ich doch Lateinamerikanerin? Nun tanze ich zwar tatsächlich gerne Salsa, aber ohne festgelegte Schritte – und am liebsten von meinem eventuellen Tanzpartner getrennt.
Anders als in Deutschland wird Salsa in Lateinamerika eher spontan als mit festen Schritten getanzt. Ganz allgemein werden bei uns nur wenige Tänze offiziell gelernt, und unsere Freizeit gestalten wir viel weniger geplant, als man es hierzulande tut. Spontaneität in der Freizeit wird bei uns für eine Tugend gehalten – weil man annimmt, dass alles, was spontan entsteht, mehr Spaß macht. Es ist auch nicht so schlimm, wenn man nicht „richtig“ tanzt. Kann es beim Tanzen überhaupt etwas Falsches oder Richtiges geben? Manche Menschen tanzen schöner als andere, das stimmt, aber da Tanzen dem eigenen Genuss dient und nicht in erster Linie dem der Zuschauer, spielt das fast keine Rolle.
Mein Traummann, ich spürte es sofort, war schwer enttäuscht. Ich weiß nicht, was schlimmer für ihn war: dass ich den tollen Schritten, die er mit so viel Mühe in der Tanzschule gelernt hatte, nicht folgen konnte oder dass ich ihn nicht wegen seiner (für mich antrainierten) Geschicklichkeit bewunderte. Na ja, zumindest hat er durch mich erfahren, dass nicht alle Lateinamerikaner „Salsa tanzen können“, zumindest nicht in dem Stil, wie die meisten Deutschen es erwarten. Es gibt sogar jede Menge Lateinamerikaner, denen hängt Salsa zu den Ohren heraus. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch viele Deutsche gibt, die keine Blasmusik mögen.
Noch viel weiter verbreitet als diese Idee, dass alle Lateinamerikaner Salsa-Liebhaber sein müssten, ist die geradezu fixe Idee, alle Ausländer seien arm. Sogar einige enge und geliebte Freunde von mir, die mich gut kennen und über meine Lebensgeschichte viel wissen, scheinen vor dieser falschen Gewissheit nicht gefeit zu sein.
Davon hatte ich allerdings noch keine Ahnung, als ich meine feste Stelle als stellvertretende Chefredakteurin einer großen und wichtigen Zeitung in Peru verließ und als Stipendiatin für ein Aufbaustudium nach Deutschland kam. Es traf mich also ganz unvorbereitet, als die nette Bekannte, bei der ich während der ersten Wochen unterkam, kurz vor meinem Auszug jede Menge gebrauchtes Zeugs aus dem Keller holte und mir zur Einrichtung meines neuen Zuhauses schenkte. Natürlich war ich dankbar, weil Sparen immer gut ist, aber etwas beleidigt und überfallen fühlte ich mich doch. Beleidigt, weil ich aus einer Gesellschaft komme, wo nur die Ärmsten sich über gebrauchte Sachen freuen, und überfallen, weil ich aus Höflichkeit einige Sachen annehmen musste, die ich gerne abgelehnt hätte. Da fehlte mir die direkte Art, die man hierzulande oft erlebt, wenn es darum geht, Nein zu sagen. Diese bestimmende Art, in der mir diese liebe Dame ein paarmal sagte: „… weil du kein Geld hast!“ Woher sie das nur so genau „wusste“? Keine Ahnung! Wenn sie diesen Satz nicht gesagt hätte, wäre ich womöglich zu dem Schluss gekommen, dass es sich um eine Art teutonischen Nationalsport handelt, denn ich habe schon gemerkt, dass gebrauchte Sachen hier von vielen gern genommen werden, und auch ich habe inzwischen das Vergnügen entdeckt, auf Flohmärkten einzukaufen.
Sehr viel diplomatischer ist eine gute Freundin, mit der mich fast seit meiner Ankunft eine schöne Freundschaft verbindet. Jedes Mal, wenn wir in eine Kneipe oder in ein Restaurant gehen, übernimmt sie die Rechnung und sagt zu mir: „Du kannst dein Geld für andere Sachen gebrauchen.“ Noch nie ist es mir gelungen, sie einzuladen – obwohl ich ihr schon erklärt habe, dass Reziprozität bei uns daheim schon seit den Zeiten der Inkas als wesentliches Prinzip gilt. Außerdem tut es immer gut, wenn man als Beschenkter auch irgendwann einmal der Gebende sein kann. Hebt es den Stolz? Vor allem, würde ich sagen, gibt es einem mehr Würde. Sicher kann man sich als Stipendiatin nicht alles leisten, was man möchte, aber wenn man das Geld gut verwaltet, kann man sich und seinen Nächsten ab und zu schon einmal etwas gönnen.
In ähnlicher Weise benahm sich eine Dame, die über Monate mit mir an einer Meditationsgruppe teilgenommen hatte. Es war die letzte Sitzung, und sie sprach mich an, um mich dazu einzuladen, eine Dankeskarte für die Gruppenleiterin zu unterschreiben. Dazu hatte sie auch einen schönen Blumenstrauß gekauft. „Nein, nein, du nicht! Du brauchst nichts zu geben“, antwortete sie mir, als ich sie fragte, wie hoch mein Anteil sei. Ich versuchte, ihr trotzdem die zwei Euro zu geben. Vergeblich.
„Sooo, Sie sind Peruanerin?“, fragte mich einmal ein Mitglied einer Peru-Partnerschafts-Gruppe, mit der ich Kontakt aufgenommen hatte, in der Absicht, aus der Ferne etwas für mein Heimatland zu tun. Der gute Mann musterte mich von oben bis unten und sagte: „Sie kommen bestimmt aus Lima.“ – „Ja“, antwortete ich. Und ahnte schon, dass ich ihn bereits enttäuscht hatte, weil ich nicht indianisch genug aussehe. „Bestimmt“, fuhr er mit seinem Kombinieren fort, „kennen Sie nur Lima.“ In Lima, der Hauptstadt Perus, wohnen tatsächlich viele Leute, die gar nicht indianisch aussehen, die ein recht gutes Leben führen und die sich wenig oder gar nicht für die Probleme der ärmeren Schichten interessieren, zu denen hauptsächlich Indianer und Menschen indianischer Abstammung gehören. Aber man kann nicht vom Äußeren ausgehen, um die Haltungen und Ansichten einer Person zu beurteilen. Viele Mitglieder der höheren und mittleren Schichten, die sich eine Bildung – oft unter Entbehrungen der Eltern – leisten konnten, haben verstanden, wie wichtig es ist, die Ausgrenzung der Ärmsten zu überwinden, die tatsächlich typisch für die peruanische Gesellschaft ist. Und sie arbeiten hart dafür.
Der Peru-Aktivist aber hatte, wie zahlreiche Deutsche, die in meinem Land gearbeitet oder für längere Zeit gelebt haben, die peruanische Gesellschaft in gute Indios und böse Weiße eingeteilt – und mich sofort in die zweite Gruppe gesteckt. Ich bin aber, wie jede Menge Lateinamerikaner, Mestizin – und weder ich noch meine Eltern sind reich. Sie und ich haben, wie zahlreiche Mitglieder der Mittelschicht, viel und ehrlich gearbeitet, und wir halten uns durchaus für gute, gerechte Menschen.
An der Hochschule besuchte ich ein Soziologieseminar über Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Den Dozenten wählte ich anschließend auch als Prüfer. Eine als sehr engagiert geltende deutsche Kommilitonin machte es genauso. Beide erhielten wir eine 2,7. Einige Monate später unterhielten wir uns über unsere Ergebnisse, und sie sagte mir: „Ich habe gehört, gegenüber Ausländern soll er ja sehr gefällig und großzügig sein.“ Ich hatte meine Note also nicht verdient, sondern als eine Art Geschenk bekommen! Wie schön!
Kann es sein, dass manche Leute denken, wer kein perfektes Deutsch spricht, könne nicht richtig lernen, entscheiden oder denken? Oder dass man für dumm gehalten wird, weil man nicht sofort mit jeder lokalen Sitte umgehen kann? Schon klar, die Ausdrucksmöglichkeiten sind beschränkt, wenn man eine Sprache erst erlernen muss, deshalb ist man aber noch lange nicht ohne Kenntnisse und Erfahrungen. Im Gegenteil. Schon die Tatsache, dass Migranten zwei oder mehrere Kulturen kennen, bereichert sie. Dass sie in der Regel nur als Putzpersonal, als Kellner, als Kassiererinnen oder als Kochhilfe Arbeit finden, hat mehr mit der deutschen Arbeitspolitik als mit ihren individuellen Fähigkeiten zu tun.
Das aberwitzigste Erlebnis hatte ich, als eines Abends zwei Freundinnen bei mir zu Besuch waren, an deren Liebe ich keinen Zweifel habe. Eine der beiden war noch nie bei mir gewesen. Sie nahm Platz, schaute sich um und sagte überrascht: „Mensch, du hast ja alles“, gerade als ich meinen Mixer anmachte, um einen Saft zuzubereiten. Trotz des Lärms des Gerätes gelang es mir, auch noch den Rest des Satzes zu hören: „… sogar einen Mixer!“ Und weil es einen logischen Grund für so ein Wunder geben musste, erklärte die andere: „Den hat sie von ihrem Freund.“ Tatsächlich, der Mixer war ein Weihnachtsgeschenk von meinem deutschen Freund, aber das heißt nicht, dass ich mir nicht auch selbst einen hätte kaufen können, wenn ich es mir vorgenommen hätte.
Dann ging es weiter: „War die Wohnung schon möbliert, oder hast du das alles gekauft? Mhmm … hast du schön gemacht!“ Ich finde meine Wohnung nicht so schön. Eher eng. Ich habe nur das Wesentliche: ein Bett, einen Schrank für meine Kleidung, ein Regal für meine Bücher, einen Schreib-, einen Nacht- und einen Esstisch, mit Stühlen oder Hockern natürlich. Auch einen Klappsessel, für eventuelle Gäste. An Elektrogeräten habe ich nur, was unerlässlich ist: Bügeleisen, Staubsauger, Radio-CD-Player, Wasserkocher, den schon erwähnten Mixer, einen elektrischen Ofen und einen Laptop, ohne den ich meine Hausarbeiten nicht schreiben könnte. Nur ihn und den Wasserkocher habe ich gekauft, das stimmt, aber ich habe mich darum gekümmert, alles zu kriegen, was ich brauchte, weil ich daran gewöhnt bin, gemütlich zu leben.
Aus einem armen Land zu kommen heißt nicht zwingend, selber so arm zu sein, dass man keinen Sinn für das Gute oder das Schöne hat. Im Gegenteil! Gerade deswegen trauen sich viele, ihre Heimat zu verlassen: weil sie auf der Suche nach einem besseren Lebensstandard sind. Objektiv, das muss man leider sagen, sind es nicht die Ärmsten der Armen, die es schaffen, ins Ausland zu gehen, weil man dafür ein gewisses Kapital braucht – ich meine nicht nur Geld, auch Kontakte und Kompetenzen, zum Beispiel Sprachkenntnisse.
Drüben in Peru besuchte ich als Kind die Deutsche Schule. Deshalb war für mich ein Aufenthalt in Deutschland fast schon ein Muss. Nie aber war es mein erklärtes Ziel, für immer hier zu bleiben. Die Möglichkeit bestand, aber ich war einfach bereit, mich vom Schicksal überraschen zu lassen. Zweieinhalb Jahre nach meiner Ankunft war ich sicher, dass ich wieder nach Hause fliegen würde. „Neeeiiiiinnnn! Das glaube ich dir nicht“, sagte mir neulich ein Freund. „Du sagst das nur, damit dir die Leute sagen: ‚Nein, Mariella, bleib hier!‘“ Mir ist es aber vollkommen ernst damit.
Genau diesen Wunsch nach Rückkehr äußerten vor kurzem etwa dreißig PeruanerInnen, die wie ich an einem Seminar „Rückkehr nach Hause“ teilnahmen. Einer der Teilnehmer war mehr als zwölf Jahre in Deutschland, wollte aber in Peru etwas Neues anfangen. Ebenso die anderen, die im Schnitt fünf Jahre in Deutschland verbracht hatten. Ihnen ging es nicht schlecht, aber die Sehnsucht, hieß es unisono, wird immer größer. Nach den Freunden, der Familie, dem Essen, dem Klima, aber besonders nach dem Gefühl, als Teil der Gemeinschaft angesehen und akzeptiert zu werden. Denn man braucht nicht unbedingt mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert zu werden, um sich „außerhalb“ zu fühlen. Es reichen die täglichen Kleinigkeiten: nicht angesprochen, angeschaut oder begrüßt zu werden. Nicht ernst genommen zu werden.