: Leben mit Einfluss
Gerhart Riegner, geboren 1911 in Berlin, wächst in einer typischen Familie des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums auf: Sein Vater, Soldat im Ersten Weltkrieg, ist Rechtsanwalt mit einer Neigung für Kunstgeschichte. Seine Mutter arbeitet als Lehrerin an einer Berufsschule für Mädchen und ist stark engagiert in der Frauenbewegung. Gerhart Riegners erste Erfahrung mit Antisemitismus macht er in seinen ersten Schultagen: Ein Schulkamerad beschimpft ihn als „dreckiger Judenbengel“ – er antwortet mit: „dreckiger Christenbengel“.
Die Inflationszeit 1922-24 übersteht die Familie finanziell durch Eröffnung eines kleinen Kunstsalons. Nach dem Abitur 1929 studiert Riegner in Berlin, Heidelberg und Freiburg im Breisgau Jura. An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der späteren Humboldt-Uni, macht er 1933 das Staatsexamen.
Nach nur wenigen Monaten als Gerichtsreferendar in Berlin-Wedding wird Riegner am 1. April 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nazis, entlassen, sein Vater aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Riegner emigriert noch im selben Jahr. Zunächst setzt er seine Studien an der Sorbonne in Paris fort, später in Genf und in Den Haag. Nach Gründung des Jüdischen Weltkongresses 1936 wird er dessen Sekretär für Rechtsangelegenheiten in Genf, ab 1939 leitet er das dortige Büro.
Während des Zweiten Weltkriegs spielt Riegner in dieser Funktion eine historische Rolle: Er deckt den Plan der NS-Regierung zur systematischen und völligen Ausrottung der Juden in Europa auf. Riegner verfasst nach langer Recherche im August 1942 ein Telegramm, durch das die Regierungen der Alliierten erstmals von der „Endlösung“ erfahren. Sie reagieren jedoch zunächst überhaupt nicht. Immerhin kann Riegner bei der Flucht jüdischer Kinder in die Schweiz und nach Spanien helfen. Er setzt sich mit einigem Erfolg für die Juden Ungarns ein. Sein hartnäckiges Engagement führt zur Gründung des War Refugee Board in den USA.
Nach dem Krieg setzt sich Riegner für die Minderheitenrechte der Juden, die allgemeinen Menschenrechte und den christlich-jüdischen Dialog ein. Er spielt eine aktive Rolle bei der Formulierung der universellen Menschenrechte der Vereinten Nationen. Als führender Funktionär des Jüdischen Weltkongresses, dessen Generalsekretär er von 1965 bis 1983 war (seit 1991 ist er dessen Ehren-Vizepräsident), kämpfte er in internationalen Gremien wie der UNO und der UNESCO für die Festschreibung der Menschenrechtskonventionen. In den Fünfzigerjahren steht Riegner der Konferenz der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Beraterstatus bei der UNO vor.
Während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) hat Riegners Engagement bedeutenden Einfluss bei der Verabschiedung der Erklärung „Nostra aetate“, mit der die katholische Kirche mit ihrer Jahrhunderte alten Judenfeindlichkeit bricht. Ihm ist es zu verdanken, dass es feste Verbindungsbüros zwischen den Vertretungen der jüdischen Religion und den christlichen Kirchen gibt.
Seine 1998 erschienene Autobiografie liegt seit kurzem auch auf deutsch vor: „Niemals verzweifeln. Sechzig Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte“, Bleicher Verlag, Gerlingen 2001, 638 Seiten, 59 Mark. Unser Interview entstand am Rande eines Empfangs, den die Berliner Humboldt-Universität für die exmatrikulierten „Kommilitonen von 1933“ zu Beginn des Wintersemesters 2001/2002 gab. GES
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