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Leben im Ausnahmezustand

Passierscheinzwang, Schultaschendurchsuchung, gesperrte Bahnübergänge, mehr als zwei Übernachtungsgäste sind illegal: Der Alltag im Protestland

aus dem Wendland NICK REIMER

Sagt der eine Bauer zum anderen: Immerhin, bei uns im Wendland ist der Wald schon grün. „Scheißwitz“, sagt der andere. Schade eigentlich. Vor zwei Wochen konnte man noch richtige Lacher damit ernten.

Mittlerweile aber gibt es kaum noch jemanden, dem die Polizeipräsenz nicht auf den Wecker geht. Grüne Posten im Wald, aller 50 Meter eine „Wanne“ am Straßenrand, ständig „Truppenbewegung“, Sirenen, Kontrollen, Hubschrauberlärm. Und bei Aldi muss man Schlange stehen – die Grünröcke kaufen Nervennahrung. 17.000 aus zehn Bundesländern sollen es sein. Ausnahmezustand im Wendland.

Einsatzkräfte klingelten sich in der vergangenen Woche nicht nur durch das kleine Dörfchen Quickborn, das an der Castor-Straßenstrecke liegt: Wie viele Gäste wohnen bei Ihnen? Dürfen wir mal schauen? Mehr als zwei Gäste sind nach dem niedersächsischen „Gefahrenabwehrgesetz“ verboten. „Wer sich weigert, den Polizisten seine Tür zu öffnen, hat schnell einen Hausdurchsuchungsbefehl auf dem Tisch“, sagt Mathias Edler, Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg. Dem Freiherrn von dem Busche räumte die Polizei Gut Meudelfitz, Castor-Gegner mussten auf dem Hof des Landarztes in Govelin die Zeltstäbe wieder einpacken. „Es gibt eine ganze Reihe solcher Fälle“, sagt Edler. Natürlich werde man überall klagen. „Und die Erfahrungen von vor vier Jahren zeigen: Wir bekommen mit 99-prozentiger Sicherheit Recht“, so Edler. Nur eben ein halbes Jahr zu spät.

Eine weitere Schikane im Wendlandleben in diesen Tagen sind die Passierscheine: „Die Nachfrage ist sehr groß“, bestätigt Polizeioberrat Peter Huber: Weit über 1.000 Scheine hat der Chef der Polizeiinspektion Lüchow-Dannenberg bis zum Wochenanfang verschickt. Wer in den Dörfern direkt an der Strecke wohnt, beim Weg zur Arbeit oder zum Einkauf die Gleise queren muss, ist ohne Schein aufgeschmissen. Einer Firma in Hitzacker war von den dort patroullierenden Polizisten erklärt worden, dass bestimmte Bahnübergänge gestern und heute ganz dichtgemacht werden sollen. Huber weist das zwar als „Gerücht“ zurück, aber ausschließen kann er es auch nicht.

Auch Schulen gehören inzwischen zum Überwachungsgebiet der Polizei. Polizeipressesprecher Detlev Kaldinski sah sich am Wochenende genötigt zu erklären, dass Schultaschen in der Freien Schule Hitzacker nicht kontrolliert worden sind, der Schulhof nicht mit Einsatzwagen befahren wurde, die Kinder auch nicht drangsaliert worden seien. Im Gegenteil: Die dort eingesetzten Polizisten aus Köln seien „offen und supernett“.

Was Lehrer Karl-Heinz Ritzel zur Weißglut treibt: „Mindestens einmal kreiste der Bahnstreckenhubschrauber während der großen Pause über unserem Schulhof, wofür es überhaupt keinen polizeilich relevanten Grund gibt. Es sei denn, man will die Schüler erschrecken oder seine Macht demonstrieren.“

Außerdem fuhren Einsatzwagen der Polizei sehr wohl auf dem privatem Schulgrund. Und: In der Tat wurden keine Schultaschen kontrolliert, „sondern Schulbeutel. Es stünde der Polizei nicht schlecht, auch mal einen Fehler einzugestehen.“ Jetzt fällt in Hitzacker der Unterricht für drei Tage ganz aus.

„Hier wird der undemokratische Atomstaat manifest“, sagt Rechtsanwalt Dieter Magsam. Als Beleg führt er bekannt gewordene „polizeiliche Abhörmaßnahmen“ von prominenten Atomkraftgegnern an. Der Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner sagt, dass Szeneobjekte beobachtet und Personendossiers erstellt wurden. BI-Mitglieder würden so „in den Dunstkreis des Terrorismus gerückt“.

Während die Rechtsanwälte dies als bewiesen betrachten, kursieren im Wendland die wildesten Gerüchte. Die Polizei plane heute, alle Handy-Netze stillzulegen. Feuerwerker müssten ihre Funkgeräte abgeben, da es ja auch unter diesen Atomkraftgegner gebe, und die könnten ja den Polizeifunk abhören.

Die Begeisterung für solcherlei Latrinenparolen ist in den letzten Tagen deutlich gesunken. Aus der Romantik des Ausnahmezustandes ist Gereiztheit geworden. Man sehnt sich im Wendland danach, über Polizistenwitze wieder unbeschwert lachen zu können.

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