■ Monatelang schwelte der Machtkonflikt zwischen Jelzins Sicherheitsberater Alexander Lebed und Rußlands Innenminister Anatoli Kulikow. Gestern stürzte Lebed über lancierte Putschgerüchte Aus Moskau Barbara Kerneck: Lebed unterliegt im Kreml
Lebed unterliegt im Kreml-Poker
Alle Anzeichen sprachen dafür, daß der Kreml den Sekretär des Sicherheitsrates, General Alexander Lebed, dessen überraschender Schulterschluß mit Jelzin im Juni den Ausschlag für dessen Sieg bei den Präsidentenwahlen gab, mit Schimpf und Schande wieder entlassen würde. Am gestrigen späten Nachmittag wurde er von Boris Jelzin gefeuert.
Ministerpräsident Tschernomyrdin erklärte gestern bei einer Pressekonferenz, er wolle dem widerspenstigen General zwar nicht direkt Putschabsichten unterstellen. Weiter aber sagte er: „Verantwortungslosigkeit, Inkompetenz und hausgemachter Bonapartismus liegen hier ganz klar vor, und zwar im Übermaß.“ Tschernomyrdin versprach, im Falle Lebed „Maßnahmen“ zu ergreifen.
Tschernomyrdin sah offenbar eine reale Chance, sich des Mannes zu entledigen, der als sein Hauptkonkurrent bei den nächsten Präsidentenwahlen gilt.
Im Morgengrauen des gestrigen Tages standen sich die beiden noch einmal Auge in Auge gegenüber, als der Sicherheitsratssekretär den Ministerpräsidenten besuchte. Vor seiner Pressekonferenz hatte Tschernomyrdin noch eine Sitzung mit hochgestellten Politikern abgehalten – unter ihnen der Chef der Administration des Präsidenten, Anatoli Tschubais, die Leiter der Geheimdienste, Verteidigungsminister Igor Rodionow und Innenminister Anatoli Kulikow.
Kulikow war es gewesen, der am Vorabend den monatelang schwelenden Konflikt zwischen der russischen Regierungselite und dem Aufsteiger Lebed innerhalb nur einer Stunde auf die Spitze getrieben hatte. Er beschuldigte den General vor versammelter Presse, einen „schleichenden“ Umsturz im Lande zu planen. Kulikow warf dem Sekretär des Sicherheitsrates „antikonstitutionelle Handlungen mit dem Ziel der Machtergreifung“ vor. Er versicherte, dieser habe sich in seinem „manischen Machtstreben eindeutig für gewaltsame Methoden“ entschieden.
Der Innenminister stützte sich in seinen Aussagen auf zwei Dokumente. Vor allem auf ein Projekt Lebeds zur Schaffung einer neuen Sondereinsatztruppe, einer sogenannten „Russischen Legion“. Die wolle Lebed zwar formell dem Präsidenten unterstellen, doch kommandieren wolle er diese persönlich.
Die „Legion“ solle von 50.000 Spezialisten aus allen Geheimdiensten gebildet werden. Ihre Aufgabe bestünde in der „Aufdeckung, Unschädlichmachung, Verhaftung, Anwerbung und Liquidierung politischer und militärischer Inspiratoren aus terroristischen, extremistischen und anderen Organisationen, deren Tätigkeit eine Bedrohung für die nationale Sicherheit des Landes darstellt“. Kulikow unterstrich vor allem die Formulierung „und andere Organisationen“. Die erlaube es, praktisch jegliche Vereinigung von Bürgern zu verfolgen.
In einem anschließenden Fernsehinterview behauptete der Innenminister sogar, Lebed habe ihm mehrmals persönlich vorgeschlagen, Verbrecher „auf der Stelle“ zu erschießen.
Der letzte Tropfen, der das Faß, und damit die Geduld Kulikows, zum Überlaufen brachte, war aber offensichtlich ein anderer: ein am Montag ergangener Erlaß Lebeds, der die Gründung einer provisorischen Kontrollgruppe aus Mitgliedern der diversen Machtministerien vorsieht. Die Kontrollgruppe soll die Einhaltung der Friedensvereinbarungen in Tschetschenien überwachen und eine eventuelle Sabotage der Friedensvereinbarungen unterbinden.
Kulikow und Lebed konkurrierten schon lange auf dem Gebiet der Tschetschenien-Politik. Nachdem der General in seiner Eigenschaft als Friedensstifter dem Inennminister in dieser Angelegenheit bereits die Show gestohlen hatte, dohte er ihn nun auch noch wichtiger Kompetenzen zu berauben. Eine Komission zur Kontrolle über die Situation in Tschetschenien besteht nämlich bereits. Gebildet wurde sie unter wesentlicher Mitwirkung Kulikows.
Der Innenminister zögerte denn auch nicht, dem Vorsitzenden des Sicherheitsrates in einem Atemzug zu unterstellen, er habe sich bereits bei den Friedensverhandlungen der Unterstützung von 1.500 tschetschenischen Freischärlern für den Fall seiner Machtergreifung versichert. Diese Behauptung wurde noch am selben Abend von den tschetschenischen Rebellen dementiert, alle anderen Vorwürfe dagegen von Lebed selbst. Der General bestritt allerdings nicht, daß das Projekt zur Gründung der „Russischen Legion“ existiere. Er bezeichnete es aber als reines Arbeitspapier, das er selbst dem Innenminister und dem Verteidigungsminister Ende August vorlegt habe.
Die Gründe dafür, daß sich Kulikow trotzdem erst jetzt zu seiner Attacke gegen Lebed entschloß, suchten die Moskauer Kommentatoren nicht nur auf dem tschetschenischen Schauplatz. Nahezu einhellig verwiesen sie auf das Schlachtfeld der Kreml-Intrigen.
Lebed hat sich in den letzten Wochen eine Reihe grober politischer Unvorsichtigkeiten geleistet. Sogar seinen alten Bundesgenossen, Verteidigungsminister General Rodionow, machte er sich zum Feind. Lebed geißelte die von Rodionow projektierten Mannschaftskürzungen in der russischen Armee als „verbrecherisch“. Dazu kamen Aussagen Lebeds über die Unzurechnungsfähigkeit von Präsident Jelzin – jenes Mannes immerhin, der über das weitere Schicksal Lebeds zu entscheiden hatte.
Den größten Fehler beging der Vorsitzende des Sicherheitsrates aber, als er letztes Wochenende offen eine politische Allianz mit dem im Juni in Ungnade gefallenen und entlassenen Ex-Kommandeur der Leibwache Jelzins, Alexander Korschakow, bildete. General Lebed forderte damit den Präsidenten und den Chef seiner Administration, Tschubais, in aller Öffentlichkeit heraus.
Für seine Gegner wurde Lebed damit vom leicht schrulligen Einzelgänger zum Teil einer politischen Gruppierung. Worin deren Gefährlichkeit für ihre Kontrahenten besteht, hat Korschakow wiederholt beschrieben: Er will in seiner elfjährigen Dienstzeit als Schatten des Präsidenten gegen alle führenden Politiker reichlich kompromittierendes Material gesammelt haben.
Unversöhnlich standen sich die Kontrahenten gegenüber. Und Lebed, der nun selbst mit einer kompromittierenden Anklage rechnen muß, goß am Mittwoch weiteres Öl ins Feuer. Er werde von Anatoli Kulikow gerichtlich Schadensersatz einklagen: „Weil ich die von ihm angehäuften Schmiergelder nicht brauche, will ich meine Forderung auf einen Rubel begrenzen. Ich werde diesen Rubel gewinnen und als Souvenir hoch ehren.“
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