: Le Pen entpuppt sich als Joker der Franzosen
■ Neuesten Umfrageergebnissen zufolge schmilzt der Abstand zwischen Präsident Mitterrand und dem Premier Chirac / Im zweiten Wahlgang sind die Stimmen des Rechtsradikalen Le Pen das berühmte Zünglein an der Wahl–Waage
Aus Paris Georg Blume
Diesmal hatten die kleinen Geschäftsleute von Rennes Jacques Chirac aufs Korn genommen. Lautstark forderten die etwa 200 Leute im bretonischen Wahlkampfzelt den Präsidentschaftskandidaten auf, ihre Fragen zu beantworten. Der aber wollte nicht, und schließlich zogen die Störenfriede wieder ab. „Wir können ihm kein Vertrauen mehr schenken“, sagten die Kleinhändler aus Rennes, die früher Chirac wählten. Doch keine Sorge, sie haben einen neuen Kandidaten: Jean– Marie Le Pen. Von zwei auf elf Prozent ist der Anteil der Chirac–Sympathisanten bei den Le Pen–Wählern innerhalb der letzten sechs Monate geschnellt. Das ist nur ein Teilergebnis der zahlreichen Meinungsumfragen, die in den letzten Wochen das spektakuläre Comeback von Jean–Marie Le Pen dokumentieren. Jacques Chirac macht es sich derzeit leicht, den Chef der Front National in seinen Reden unerwähnt zu lassen. Doch scheint heute der Tag nicht mehr fern, an dem der Premierminister, will er sich eine Siegeschance beim zweiten Wahlgang am 8.Mai wahren, die Fragen der Rechtsradikalen beantworten muß. Sei es den Kleinhändlern aus der Bretagne oder Jean–Marie Le Pen. Zehn Tage vor dem ersten Ur nengang der Franzosen geraten die bisher ruhigen wahlpolitischen Gewässer noch einmal in Bewegung. Erstmals seit Monaten darf an einem leichten Wahlsieg des amtierenden Staatschefs Mitterrand wieder gezweifelt werden. Nach Einschätzungen von Politikern wie auch jüngsten Umfrageergebnissen ist die Kluft, die die beiden aussichtsreichsten Kandidaten, Jacques Chirac und Franois Mitterrand, bisher voneinander trennte, beträchtlich zusammengeschmolzen. Ex–Staatschef Valery Giscard dEstaing, einer der erfahrensten und aufmerksamsten Beobachter des Wahlrennens, sieht heute einen „sehr knappen“ Wahlausgang voraus, nachdem er zuvor den Wahlsieg Mitterrands offenbar für unausweichlich hielt. Mitterrand rechnet heute für sich nur noch mit 36 Prozent der Wählerstimmen beim ersten Wahlgang, eine Zahl, die den Ausgang am 8.Mai offen lassen würde. Schließlich zeigt eine letzte Umfrage des französischen Nachrichtenmagazins Le Point, daß Chirac und Mitterrand bei der Stichwahl heute vier Prozent der Stimmen trennen, nachdem es noch im November 17 Prozent waren. Obwohl die einzelnen Meinungsumfragen nach wie vor große Differenzen aufweisen, ist ihnen der positive Trend für Chirac gemein. Zudem zeigen sich die Anhänger des abgeschlagenen Rechtskonkurrenten Raymond Barre heute stärker denn je bereit, ihre Stimmen beim zweiten Wahlgang dem Premier zu übertragen. Je näher jedoch die Stichwahl rückt, desto bedeutender wird die Rolle von Jean–Marie Le Pen. Le Point titelte ihn diese Woche als den „großen Störenfried“, der den „Schlüssel für den zweiten Wahlgang“ in der Hand halte. Bisher hatten in Frankreich etablierte Presse und Kommentatoren nicht gewagt, Le Pen ins Licht zu rücken. Heute aber scheint wahr, was Kritiker der großen Parteien seit Jahren befürchten: Die Rechtsradikalen sind das Zünglein an der Waage in der französischen Politik. Zehn Prozent sind beim ersten Wahlgang sicher. Voraussichtlich wird die Front National diesmal den doppelten Stimmenanteil der Kommunisten gewinnen - bei den Parlamentswahlen 1986 stand sie mit ihnen noch gleich. Absehbar ist auch, daß die Le Pen–Partei in zahlreichen Städten Südfrankreichs zur stärksten Kraft auf der Rechten heranwachsen wird - genau ein Jahr vor den Gemeindewahlen. Chirac und Mitterrand stehen vor einem großen Dilemma. Ersterer hat mit seinem Wahlkampf das traditionelle Wählerreservoir der Rechten erfolgreich ausgebeutet. Nun bleibt ihm kein anderer Ausweg mehr, als zusätzlich Le Pen–Wähler zu gewinnen. Und auch Mitterrand muß zum Wahlsieg jenes Drittel der Le Pen–Wählerschaft zurückgewinnen, das ursprünglich von links kam. Die präsidentiellen Vorlieben dieser Wähler sind nämlich gut verteilt. Eine Umfrage von Le Monde stellt fest, daß 17 Prozent von ihnen Mitterrand vorziehen, 16 Prozent Barre, 26 Prozent Chirac und nur 28 Prozent Le Pen, den noch beim ersten Wahlgang alle wählen. Was immer passiert, vor dem 8.Mai werden alle Augen auf Le Pen starren. Dann stellt er den Kandidaten seine Fragen. Nach einem Geheimvertrag mit Chirac wurde Le Pen gefragt. „Ein Geheimvertrag ist geheim“, antwortete der Kandidat. „Geheime Verhandlungen sind ebenfalls geheim. Um was könnte es gehen? Um Ministerin für die Front National. Vor allem aber um die Gemeindewahlen.“ Le Pen, darauf kann Chirac gefaßt sein, ist ein gerissener Geschäftsmann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen