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Lawinen im August, Baden im Januar

■ Schon in den Jahrhunderten zuvor trafen die Kapriolen des Wetters die Menschen oft hart. Dürrewellen oder Schneemassen – machtlos ist der Mensch den Naturgewalten ausgeliefert

Bei Lawinen, Fluten und anderen Naturkatastrophen stellt sich in Zeiten der modernen Zivilisation schnell die Frage nach der Schuld. Zugebaute Lawinenhänge, trockengelegte Überschwemmungsgebiete, gerodete Wälder – es gehört zum Allgemeinwissen, daß sich die Menschen oft über den von der Natur vorgegebenen Rahmen hinwegsetzen und dann überrascht tun, wenn sie die Folgen treffen.

Doch auch aus der Zeit, als die Euopäer noch nicht den letzten Winkel ihres Kontinents nutzten, sind schon haarsträubende Wetterkapriolen mit harschen Folgen für die Siedler bekannt. „Die derzeitigen Schneehöhen finden eine Parallele höchstens im Jahr 1566“, meint Christian Pfister vom Historischen Institut der Universität Bern. Anders als die Naturwissenschaftler, die über Messungen an Gletschern und Baumringen die Klimaverhältnisse der Vergangenheit erforschen, hält sich der Schweizer Historiker an die Aufzeichnungen derer, die dabeiwaren. Bauern, Handwerker, Gelehrte, Pfarrer – sie notierten ihre Beobachtungen, und die Historiker konnten so ein Wetterpuzzle von 1525 bis heute zusammensetzen.

Pfister nennt als Jahr mit ähnlichen Schneefällen wie diesen den Winter 1951, jedoch über einen kürzeren Zeitraum. Daß die Schweizer nach den damaligen Lawinen systematisch kritische Berghänge mit Lawinenschutz verbaut haben, ist für Pfister ein Segen. „Sonst hätten wir in diesem Winter vermutlich Großlawinen mit mehreren hundert Toten.“ Für ihn kommt es nun darauf an, wie schnell die Schneeschmelze im Frühjahr einsetzt: „Da werden die Deutschen leider ihren Teil des Schweizer Schnees abbekommen.“

Über die Jahrhunderte forderten Trockenheit und Kälte wesentlich mehr Opfer als Lawinen. Die hohen Gletscherstände der „kleinen Eiszeit“, welche vom 14. Jahrhundert bis um 1860 währte, stehen nach den Auswertungen mit völlig versauten Sommern im Zusammenhang. Im Jahre 1587 fiel noch am 4. Juli Schnee bis in die Niederungen, wie der Pfarrer von Stein am Rhein in seinem Kirchenbuch vermerkte. Und eine Katastrophe bahnte sich 1816 an, als in allen Monaten Schnee bis auf 800 Meter Höhe fiel. So donnerte am Calanda-Bergmassiv bei Chur in der Nacht vom 30. auf den 31. August (!) eine Lawine zu Tal. Ende September standen damals die Kartoffelfelder noch so grün wie sonst im Juli, auch Getreide- und Gemüseernten fielen praktisch aus. In den Jahrhunderten vorher hatte es eine solche Katastrophe in der Stadt Chur nicht gegeben, also wie hätten sich die Menschen dagegen schützen sollen?

Um das Unglück vollzumachen, kam nach zwei kalten Jahren im Sommer 1817 ein Hitzeschock. Die Schneemassen schmolzen nun bis zu den Gipfeln und lösten die schwerste Hochwasserkatastrophe seit 1566 aus.

Auch den längsten und trockensten Sommer der letzen 500 Jahre konnten die Historiker ausmachen: Im Jahr 1540 zählte Heinrich Bullinger in Basel in den 26 Wochen von Mitte März bis Ende September gerade sechs Niederschlagstage. Fußbreite Spalten klafften in staubtrockenem Erdreich auf, kleinere Flüsse versiegten, der Rhein schmolz zu einem Rinnsal zusammen. Und es blieb warm durch den Winter. Noch Anfang Januar 1541 tummelten sich Burschen im Rhein. In Zeiten der Globalisierung und der Mineraldünger fällt immerhin ein Problem weg: Klimakapriolen bestimmen nicht mehr akut die Proteinversorgung der Menschen. Nach einem nassen Sommer und einem kalten Frühjahr gaben die ausgehungerten Kühe keine Milch mehr. Die Infektionskrankheiten stiegen an, Taufen wurden seltener in den Kirchenbüchern vermerkt. Reiner Metzger

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