: Last Exit Provinz
Gibt es Schlimmeres, als über einen gefrorenen Rasen zu gehen?
Zuletzt hat es doch noch zu schneien angefangen. Vor dem Fenster des ICE treiben Schneeflocken vorbei, und ein weißer Schleier legt sich langsam auf die Straßen, Felder und Häuser. Es sieht aus wie auf einem Gemälde aus anderen Zeiten: Kurz vor Weihnachten zeigt die Provinz sich noch einmal von ihrer besten Seite, als friedliche, versöhnlich stimmende Landschaft. Wenn morgen früh die ersten Kinder ihre Schneemänner bauen werden, wird das Bild perfekt sein.
Unsere kurze Reise durch die Provinz ist beinahe zu Ende. Einmal müssen wir noch umsteigen, dann können wir in den überheizten Abteilen des Regionalexpresses nach den ersten bekannten Gesichtern Ausschau halten, und eine halbe Stunde später holen unsere Eltern uns wie jedes Mal am Bahnhof ab. Wir fahren mit dem Auto durch die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, nicht zu schnell natürlich, denn unter der frischen Schneedecke könnte es glatt sein. Wir lassen den Bahnhof hinter uns, an dem es immer noch genauso trostlos aussieht wie das letzte Mal, als wir hier in einen Zug gestiegen sind, und fahren dann quer durch den Ort, in dem sich auf den ersten Blick nicht viel geändert hat. Nur in der Fußgängerzone ist die Weihnachtsbeleuchtung in diesem Jahr zum ersten Mal mit farbigen Glühbirnen bestückt worden.
Wir fahren an unserer Schule vorbei, sehen von weitem den Sportplatz und die Tennisanlage und biegen schließlich in die Neubausiedlung ein. Gleich nebenan sind vor kurzem junge Leute eingezogen, und sie haben einen Gartenzwerg vor ihre Haustür gestellt, der mit einem Handy telefoniert. Es gibt viel zu erzählen. Herzlich willkommen zu Hause.
Am nächsten Abend sieht man dann die anderen, das gehört zum Ritual. In einer der Gaststätten mit Saalbetrieb, die wir früher niemals freiwillig betreten hätten, treffen sich jedes Jahr kurz vor Weihnachten die ehemaligen Abiturienten. Es ist eine Art großes Klassentreffen, aber niemand redet gerne von früher. Wir sehen uns die ersten Kinderfotos an, geben mit unseren Jobs an, und vor allem versuchen wir, all denen aus dem Weg zu gehen, die wir schon damals nicht ausstehen konnten.
Das maßlose Selbstbewusstsein, mit dem wir die Provinz verlassen haben, ist ungebrochen. Ab und zu sehen wir mitleidig zu denjenigen hinüber, die immer noch hier in der Gegend wohnen. Sie haben es nicht geschafft. Wir freuen uns darüber, dass sie einen Bierbauch oder eine Dauerwelle haben, und fragen lieber nicht, wo sie arbeiten. Jörg, der gestern Nacht mal wieder nur so zum Spaß im Galaxy war, sagt, dass auch dort die Leute noch genauso furchtbar aussehen wie früher: „Bauerndisko eben.“
Es ist das alte Spiel, das daheim, in der vertrauten Umgebung, immer noch am besten funktioniert. Wir versuchen uns gegenseitig darin zu bestätigen, dass wir hier, wo wir eigentlich zu Hause sind, nicht hingehören. Für einen Moment haben wir wieder das Gefühl, auf der falschen Seite zu stehen und damit genau richtig zu liegen: Die Provinz, das sind die anderen.
Dabei sind wir längst auf dem Weg zurück. Kerstin, die neuerdings für einen größeren Konzern betriebsinterne Kulturevents organisiert, verbringt mit ihrem Freund ab und zu ein Relaxwochenende in einem der Wellnesszentren draußen auf dem Land: „Einfach mal nichts tun.“
Michael, der gestern aus Italien anrief, hat endlich seinen Abschluss in Theaterwissenschaft gemacht, und weil es mit einem Job nicht einfach ist, denkt er ernsthaft darüber nach, sich in einer der kleineren westdeutschen Städte nach einer Stelle umzusehen: „Dort wird für Kultur noch Geld ausgegeben.“ Steffi verbringt ihre Urlaube in Südamerika und Asien – „Hauptsache, weit weg“ –, aber insgeheim träumt sie von einem Leben auf dem Land, mit einem Hund und einer ganzen Schar von Kindern.
Jörg, der sich schon vor einiger Zeit in Berlin mit einer Internetfirma selbstständig gemacht hat, muss neuerdings immer mehr Auftraggeber in Süddeutschland besuchen. Jetzt überlegt er, ob er sich nicht ein Häuschen im Umland zulegen soll, weil es von dort mit dem Auto zum Flughafen schneller geht als von der Stadt aus. Und sogar Matthias, der früher davon träumte, in der Anonymität des Großstadtlebens unterzugehen, hat gelernt, die kleinen Verhältnisse zu schätzen. Er lebt in seinem Bezirk wie auf dem Dorf und geht nur noch in die Kneipen, in denen er auf jeden Fall ein paar Bekannte trifft.
Die Provinz, das sind wir. Und wir sind noch nicht einmal richtig angekommen. In ein paar Jahren werden wir in einer der neuen Dienstleistungsstädte arbeiten, die auf dem flachen Land verkehrsgünstig zwischen Autobahn und Datenhighway entstehen. Unsere Privatanschrift wird aus einer E-Mail-Adresse und einer Mobilfunknummer bestehen, und wenn wir abends zurück in unsere umzäunten Wohnsiedlungen fahren, die nach amerikanischem Vorbild angelegt worden sind, wird uns gar nicht mehr auffallen, dass die Häuser hier alle gleich aussehen.
Wir werden in immer größeren Shopping-Malls einkaufen und unsere Freizeit in überdachten Naherholungsgebieten und Themenparks mit urbanem Flair verbringen. Und überall werden die Angestellten der privaten Sicherheitsdienste ein Auge darauf haben, dass diejenigen, die in unserer Gemeinschaft nichts zu suchen haben, außen vor bleiben.
Endlich wird die Provinz, in der wir aufgewachsen sind, all ihre Versprechen einlösen. Wir werden in der idealen Welt leben, obwohl es auch hier nicht überall zum Besten steht. Bei unseren Fahrten durch die Provinz werden wir aus dem Auto oder dem Zug zwischen den Siedlungen und Gewerbegebieten verlassene Dörfer und Kleinstädte sehen. Wir werden beobachten, wie nach amerikanischem Vorbild die ersten Wohnwagensiedlungen entstehen, in denen das neue ländliche Proletariat seine bewegliche Heimat finden wird, und wir werden in den Erlebnisgaststätten und anderen Orten der Spaßgesellschaft auf Menschen treffen, mit denen wir nichts gemeinsam erleben möchten. Erst dadurch wird unser Leben wirklich perfekt. Wir werden uns genauso wie damals an einem Samstagabend im Galaxy in der Illusion wiegen, dabei sein zu können, ohne dazuzugehören. Mit diesem Gefühl wird es sich hier ganz gut leben lassen: Man könnte es Heimat nennen.
Das vorweihnachtliche Treffen ist zu Ende. Es ist spät geworden. Wir gehen zurück in die Neubausiedlung, zu den Häusern unserer Eltern. Die Jalousien sind längst heruntergelassen, in einigen Vorgärten sind ordentlich zurückgeschnittene Tannen mit Lichterketten geschmückt. Die Straßenbeleuchtung ist eingeschaltet, der Himmel leuchtet orangefarben. Es schneit noch immer, und die Fußspuren, die wir hinterlassen, sind schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu erkennen. Früher hatte man uns immer verboten, bei Frost durch den Vorgarten zu laufen, weil man die Abdrücke im Rasen sonst das ganze Jahr über sehen würde. Heute können wir uns Schlimmeres vorstellen.
In zwei oder drei Tagen werden wir uns wieder zum Bahnhof bringen lassen und erleichtert zurück in die Stadt fahren. Last Exit Provinz. Noch einmal werden wir das andere Gefühl genießen, das nur wir kennen. Es ist das Gefühl, dass man einfach nur in einen Zug steigen muss, um mit dem Leben anzufangen.
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