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Langnese oder Beleidigung

Vorletzte Woche saß ich in der Breth-Inszenierung der „Letzten“ von Gorki in der Berliner Freien Volksbühne, die bekanntlich vom Schicksal gebeutelt ist. Der Platz neben mir war leer, und schon vor der ersten Pause begann ich, die abwesende Person zu beneiden. Gegen Stück und Inszenierung war weiter nichts zu sagen (am Schluß fühlt man sich allerdings, als hätte man dreimal hintereinander „Schuld und Sühne“ gelesen), aber das Setting war dermaßen unkomfortabel, daß der Kunstgenuß zur Anstrengung wurde.

Nach der ersten Pause saß neben mir ein junger Mann, der zuvor in der ersten Reihe links außen plaziert worden war, auf einem Platz mit „Sichtbehinderung“. Oh milde Prosa der Verwaltung! Er sah nichts, er hörte kaum etwas, und dementsprechend verstand er wenig. Für diese Karte waren 35 DM zu entrichten. Und das war nur der erste Kreis der Hölle

-denn hinten sah man fast ebensowenig, hörte fast ebenso schlecht und befand sich bereits nach einer Stunde in einem Dunstkreis aus Schweiß, Parfum und geschwollen Füßen, der dem unserer U-Bahnen nach einem heißen Sommertage in nichts nachsteht. Und wie jede „wichtige“ Inszenierung dauerte auch diese mehr als vier Stunden, obwohl man den letzten Akt, ohne den Beteiligten oder dem Text Schaden zuzufügen, getrost hätte streichen können. Daß Quantität nicht für Qualität garantiert, daß Kunst nicht mehr wert ist, bloß weil man sie sich mühsam verdienen muß - diese Binsenweisheit wird im deutschen Theater seit Jahren notorisch ignoriert.

Der Vorteil des Theaters - die Tatsache, daß es sich um eine Life-Veranstaltung handelt - wird leider allzu selten genutzt. Früher einmal soll auf den Ausruf „Ein Pferd! Ein Königreich für ein Pferd!“ die Frage eines Zuschauers „Tut's ein Esel nicht auch?“ gefolgt sein, mit der Antwort des Schauspielers quittiert: „Ganz recht, mein Herr, kommen Sie nur gleich herunter!“ Solcherart Dialektik ist selten geworden. Bei der Castorf-Inszenierung von „Miß Sarah Sampson“, aus München zum Theaterfest geladen, konnte man sich allerdings über mangelnde Publikumsbeteiligung nicht beklagen. Nachdem, zu halb vollzogenem Coitus auf der Bühne und anschließender Selbstbefriedigung unterm schwarzen Abendkleid, bereits eine Reihe von Leuten die Volksbühne nicht eben diskret verlassen hatten, nutzte ein Zuschauer die Gelegenheit, seinem Kummer gezielt Ausdruck zu verleihen. Auf die Frage Mellefonts, wer er denn eigentlich sei, tönte es: „Das Opfer Ihres Regisseurs!“ Nach donnerndem Applaus, vom Mellefont-Darsteller Herbert Fritsch in Ruhe abgewartet, fragte der: „Wollen Sie Ihr Geld zurück?“ Was wäre wohl gewesen, wenn alle lautstark „Ja!“ gerufen hätten? Die Kasse wäre in Schwierigkeiten geraten. Stattdessen sprach Fritsch seinen Text ein bißchen schneller und ließ ein paar Passagen aus, um das Leid zu verkürzen, nicht ohne eine Sprachschleife für den „renitenten Zuschauer“ einzuflechten.

So gibt es, ohne Langnese und Klimaanlage, doch noch gewisse Momente, in denen wir lieber ins Theater gehen.

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