: Landschaften aus Gefühlsverstärkern
■ Anthony Coleman und Roy Nathanson aus der Knitting Factory collagieren Verweise
Es gibt keine Stile, die sich an so vielen verschiedenen Orten geformt haben wie Jazz und Klezmer-Musik. Notgedrungen. Denn beide bildeten nicht nur „Brücken zwischen Kontinenten“, wie der idealistisch verblendete Musikfreund sich ausdrückt, wenn er Kulturäußerungen einmal mehr von der politischen Lage oder den Lebensumständen trennen möchte. Vor allem Klezmer kam dort zur Aufführung, wo Flüchtlinge eine Küste, ein Meer, oder wenigstens einen Fußmarsch und eine Handbreit zwischen sich und den Haß legen wollten.
Klezmer Musik erzählt heute aber nicht einfach deren Reiserouten nach. Die Kompositionen des Saxophonisten Roy Nathanson und des Keyboarders Anthony Coleman lassen beispielsweise ihre Hörer nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Die Musik der ehemaligen Knitting Factory-Mitarbeiter kann sich in einem Moment anhören, als wenn drinnen im Hühnerstall die Oma Motorrad fährt, während draußen Landschaften aus Gefühlsverstärkern blühen. Nach einem Augenaufschlag entschließen sich die beiden Könner zu einer Art dadaistischen Geschichtswahrnehmung und collagieren die letzten Momente eines Sonnenaufgangs von vor 78 Jahren mit dem Erlebnis, sich beim Spielen direkt in die Augen zu schauen.
Wie Zappa beherrschen Coleman und Hawkins die Kunst der Referenz, des musikalischen Verweises. Wie Duke Ellington fallen den beiden konzertante Kompositionen, konzipiert für ein paar Dutzend Mitwirkende, ausgeführt von zweien, nur so zu.
Nur manchmal spielt sich das Duo mit Macht etwas zu lange in die eigene Spielfreude. Ein angeschlagener oder geblasener Ton gibt dann in der Weise den anderen, wie bei fruchtlosen Zankereien ein Wort das Nächste nach sich zieht. Die Welt aus Tönen, in der sich Coleman und Nathanson bewegen, nimmt sich als eine hermetische, gestopfte Idylle aus. Jedes und wirklich jedes Gefühl wird zunächst einmal als „schön“ betrachtet und alle Fingerfertigkeit in den Dienst eines bauchnabelpinselnden Ästhetizismus gestellt. Auch als „Dinosaurier von der Knitting Factory“ (Info-Text) ist man offensichtlich nicht gegen hochenergetische l'art pour l'art gefeit.
Im Westwerk ist also zwischen einem Witz und Horizonterweiterung viel drin.
Kristof Schreuf
Do, 20. Juli, Westwerk, 21 Uhr
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