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■ Lafontaine war über Jahre ein Teil der Krise der SPD, und doch hat er Chancen, die Partei aus ihr herauszuführenDer politische Anführer

Ohne Zweifel, das war ein bewegter Parteitag, den die Sozialdemokraten da hingelegt haben. Anfangs lief alles auf eine Katastrophe hinaus. Selten zuvor waren sozialdemokratische Delegierte mit soviel Empörung und Wut zu einem Parteitag gereist. Aber daraus entstand keine Opposition. Es entlud sich Frust, nichts weiter. Der Unmut der Delegierten hatte keine Struktur, kein Ziel, keine Perspektive, kein Programm und keine Führung. Das war die verheerende Folge der Entpolitisierung der SPD in den achtziger Jahren, als die Partei auf den Proporz, die Quote, den programmatischen Formelkompromiß, den flügelübergreifenden Konsens kam. Die SPD verlernte, was Politik ausmacht: die harte Auseinandersetzung um klar erkennbare Positionen. Die Partei verschwiemelte.

Aber jetzt haben wir ja Oskar Lafontaine als Leitwolf, atmet die Partei auf. Und verdrängt, daß Lafontaine in den letzten Jahren mit von der Führungspartie war. Die Krise der Sozialdemokratie begann nicht erst mit Scharping; zur Krise der Partei gehörte immer auch Oskar Lafontaine, als stellvertretender Parteivorsitzender und als Kanzlerkandidat 1990. Auch seine Mannheimer Kür war typisch für ihn, den erprobten Zauderer. Die Verzweiflung perspektivloser Delegierter trieb ihn plötzlich nach ganz oben, fast aus Versehen. Da war kein rationales Kalkül. Die Szene hatte etwas Spontihaftes, sie erinnerte an studentische Vollversammlungen der siebziger Jahre.

Die Partei jubelt, aber außerhalb der sozialdemokratischen Wagenburg werden die alten Vorbehalte reaktiviert: Der Mann gilt als unberechenbar. So einer hat es schwer bei Wählern.

Und in der Tat: Oskar Lafontaine ist kein Politiker, nach dem die Wähler rufen. Die Partei aber braucht ihn. Einen Mann wie Schröder müssen die Sozialdemokraten hassen, denn er nimmt ihnen noch das wenige, was ihnen in ihrer tiefen Krise allein geblieben ist und woran sie sich wie Ertrinkende klammern: ihre alten Ideologien, ihr sozialistisches Brauchtum, die selbstgerechte Überzeugung, einzige Partei der Entrechteten und des Internationalismus zu sein. Lafontaine dagegen streichelt die verwundeten Seelen der Parteisoldaten. Er verkörpert das sozialdemokratische Juste-milieu, repräsentiert ihre pazifistische Mentalität, ihren sozial gerechten Trotz gegen die anderen, den Gegner, den politischen Feind. Aber im Unterschied zu Rudolf Scharping kann Lafontaine die sozialdemokratische Beschlußlage auch popularisieren, kann ihre Botschaften zuspitzen, kann dadurch mobilisieren, Leidenschaften entfesseln. Und ihm gelingt es auch, mit populistischem Instinkt der Beschlußlage vorauszupreschen, neue Projekte zu inszenieren und gleichzeitig das schwerfällige Parteivolk mitzuziehen. Gerade danach haben die Sozialdemokraten zuletzt gelechzt. Auch sie sehnen sich trotz der bei ihnen zum Kult getriebenen Medienschelte nach einem politischen Anführer, der vor den Kameras glänzt, in Talk- Shows brilliert und schlagfertig wie Fischer auftritt. Das alles wird ihnen Lafontaine ohne Zweifel geben. Auch Rot-Grün wird wieder eine neue Perspektive gewinnen. Das werden die Grünen gewiß mit einem lachenden, aber auch mit einem weinenden Auge sehen. Denn Lafontaine wird in ihrem Anhängerpotential wildern. Seine linke Außenpolitik wird die Regierungsfähigkeit der Sozialdemokraten nicht befördern, aber friedensbewegten grünen Sympathisanten, die mit dem Fischer-Kurs hadern, imponieren. Und schließlich wird mit Lafontaine die sozialdemokratische Handlungsblockade im Osten Deutschlands aufgebrochen. Die PDS wird jetzt in das sozialdemokratische Koalitionskalkül einbezogen, sie wird nicht mehr protestantisch-gesinnungsethisch bejammert.

Das alles geht natürlich nicht ohne Streit und Verwerfungen ab in der SPD. Die lange währenden und tiefreichenden strukturellen Probleme der Partei sind durch den Führungswechsel nicht aus der Welt geschafft. Die Ministerpräsidenten werden weiterhin ihr eigenes Süppchen kochen. Die generationsspezifische Verengung der Mitgliedschaft bleibt erhalten. Die gravierenden Organisations- und Managementdefizite im Mittelbau und besonders in den Führungsgremien der Partei bestehen nach wie vor. Die Ortsvereinskultur droht auszusterben. Selbst der Disput über Rot-Grün ist keineswegs zu Ende geführt. Vor allem aber bleibt das Kardinalproblem der Sozialdemokraten: die Schwierigkeiten der Partei, ihre sozial und kulturell extrem disparaten Wählermilieus noch erfolgreich zu verklammern.

Aber gerade dafür eröffnet der Führungswechsel neue Möglichkeiten. Es ist in den letzten Wochen von einigen Interpreten schon gesagt worden: Die SPD braucht angesichts der markanten Heterogenität ihrer Führungsaufgaben und Wählermilieus eine kollektive Führung von drei, vier habituell unterschiedlichen, politisch erfolgreichen Leuten. Das Haupthindernis für eine solche Leitungsstruktur war Scharping, das ist beiseite geräumt. Die Enkel haben jetzt ihre letzte und keineswegs kleine Chance. Sie können antreten mit einem Parteivorsitzenden Lafontaine, der in das Lager der Grünen hineinwirkt; mit einem Fraktionsvorsitzenden Scharping, der die Traditionalisten bei der Stange hält; mit einem Wirtschaftspolitiker Schröder und einer Sparkommissarin Simonis als potentielle Kanzlerkandidaten, die auch Wähler des bürgerlichen Spektrums ansprechen.

So könnte die SPD den freien Fall der letzten Monate stoppen, über die Binnenfixierung hinauskommen, wieder in die Grenzbereiche der anderen Parteien hineinstoßen. Die mögliche Teamführung im übrigen ist zeitgemäß, moderner jedenfalls als die Autokratie von Helmut Kohl in der Union oder die Einmannshow von Joschka Fischer bei den Grünen. Das registrieren auch die Medien, die ihre Aufmerksamkeit und Häme in den nächsten Monaten – schon aus Überdruß am Thema SPD – wieder auf den Zerfall der FDP, die gewaltigen strukturellen Probleme der Union und die selbstgefällige Saturiertheit der Grünen richten werden.

Kommt die SPD in den nächsten Monaten wieder aus ihrem Tief heraus, dann schreibt das alle Welt dem neuen Parteivorsitzenden gut. Lafontaine würde wohl Blut lecken und Satisfaktion für die Schmach von 1990 verlangen. Denn davon ist er nach wie vor und ganz verbohrt überzeugt: Daß er damals in allem recht hatte und 1998 endlich recht bekommen wird. Ebendas könnte ein fataler Irrtum sein. Franz Walter

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