: Lafontaine: Von der Nation zum Provisorium
Bonn (dpa) — Das vereinte Deutschland soll ein „Provisorium“ bleiben. Das fordert der SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine. Eines nicht mehr fernen Tages müsse es in einem größeren Europa aufgehen, da der Nationalstaat längst überholt sei, heißt es in seiner deutschlandpolitischen Grundsatzrede vor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn weiter. Die Deutschen müßten sich deshalb von einem Nationenbegriff lösen, der an die ethnische Abstammung gebunden sei, und zu einem universalistischen Verständnis kommen. Dies sei auch die Grundlage für eine zeitgemäße Einwanderungspolitik.
Lafontaine machte wieder einmal klar, daß er den innenpolitischen Einheitskurs von Bundeskanzler Helmut Kohl für falsch hält: „Nicht die Vereinigung selber, sondern das Tempo der Vereinigung war schlecht.“ Menschliches Leid und materielle Opfer hätten vermieden werden können, wenn der Vereinigungsprozeß von Anfang an vernünftig gestaltet worden wäre, meint der SPD-Vize. Die Regierung müsse endlich die tatsächlichen Kosten der Einheit auf den Tisch legen. Schon jetzt sei klar, daß Bundesfinanzminister Theo Waigel als der „gigantischste Schuldenmacher nach dem Krieg“ in die Geschichte eingehen werde. Er sehe angesichts der Kassenlage nicht, wie man an Steuererhöhungen vorbeikommen könne.
Der SPD-Kanzlerkandidat schlug ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur Gesundung der DDR-Wirtschaft vor. An erster Stelle nannte er die unverzügliche Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur, um die Voraussetzungen für ein nach ökologischen Kriterien ausgerichtetes „Aufholwachstum“ in Ostdeutschland zu schaffen. Die Hemmnisse für private Investitionen müßten beseitigt werden. Außerdem solle die Treuhandanstalt die Gewerkschaften bei der Privatisierung stärker berücksichtigen und so arbeitsfähiger machen. Lafontaine schlug zur Qualitätsanhebung des öffentlichen Dienstes in der DDR ein Patenschaftsprogramm vor. Für ein Jahr sollte ein Austausch zwischen Verwaltungsfachleuten auf allen Ebenen stattfinden. Zur Eindämmung der sprunghaft steigenden Arbeitslosigkeit schlug er erneut Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften vor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen