: LEUTE MIT WEISSEN SOCKEN SIND GEWALTTÄTIG Von Ralf Sotscheck
Wenn in den irischen Kneipen lange vor Mitternacht die Zapfhähne versiegen, ist guter Rat teuer — im wahren Sinne des Wortes. Dann bleibt nämlich nur noch ein Nightclub. Darunter versteht man in Irland jedoch keineswegs einen Nachtklub, sondern eine Diskothek, die auch nach der Sperrstunde noch geöffnet ist; und der „Strip“ hat nichts mit Entkleidungskünsten zu tun, sondern bezeichnet die harmlose Vergnügungsmeile, auf der sich geballt das Dubliner Nachtleben abspielt.
Diese Meile ist die keine 300 Meter lange Lower Leeson Street. Nachts um drei ist hier die Hölle los: Menschentrauben überqueren die Straße, Paare in eleganter Abendgarderobe flanieren auf dem Gehweg oder stehen, umringt von Bettlern, an einer der winzigen fahrbaren Imbißbuden nach Pommes frites an. Auf der Fahrbahn parken zahllose Taxis in zweiter Spur und warten auf Fahrgäste.
Tagsüber verrät die Leeson Street nichts von ihrem Doppelleben. Seriöse Kanzleien und Büros säumen die Straße, die im Volksmund „Dr.Jekyll and Mr. Hide“ heißt— denn nachts ändert sie ihr Gesicht: Jedes zweite Souterrain ist zu einer Diskothek ausgebaut. Am oberen Ende jeder Treppe stehen zwei, drei kräftig gebaute „Bouncer“ im schwarzen Anzug mit Fliege und — bei Regen — mit buntgestreiften Stockschirmen. Diese Rausschmeißer, oftmals Polizisten im Nebenjob, heißen offiziell „Crowd Control Engineers“ — Techniker für Massenkontrolle. Sie allein entscheiden, wem Einlaß gewährt und wer durch eine Zurückweisung gedemütigt wird.
Nach welchen Kriterien sie dabei vorgehen, ist auch eingefleischten Disko-Besuchern nicht immer einsichtig. „Wir legen Wert darauf, daß die Gäste bei ihrer Ankunft wenigstens halbwegs nüchtern sind“, erzählt einer der Türsteher. „Außerdem müssen sie mindestens 23 Jahre alt sein. Bis zu diesem Alter sind es doch alles Babys.“ Ein anderer Massenkontrolleur läßt keine weißen Socken an sich vorbei: „Wer weiße Socken trägt, neigt zur Gewalttätigkeit.“ Das Urteil des Bouncers ist endgültig, Proteste sind zwecklos. Es gibt sogar ein Theaterstück über die allmächtigen Türhüter, das die halb euphorische, halb gedrückte Atmosphäre der Tanzschuppen genau einfängt: Anbaggern, Anmache, Schlägereien.
Wer diese Hürde erfolgreich genommen hat, findet sich in einer der schummrigen Diskotheken wieder, die sich in Einrichtung, Publikum und Musik nur graduell unterscheiden und ständig Namen sowie Besitzer wechseln. Allen Discos gemeinsam sind die gesalzenen Preise. Eine Flasche Liebfrauenmilch, nicht gerade die Perle unter den Weinen, kostet 15 Pfund (über 40 Mark). Für ein Glas Mineralwasser muß man immerhin noch gut acht Mark hinblättern. Wer nichts bestellen möchte, wird höflich, aber bestimmt zum Gehen aufgefordert.
Das einseitige Angebot des Dubliner Nachtlebens deckt den Bedarf nicht ab: Nichts fürchten Iren und Irinnen mehr, als nach Hause gehen zu müssen. Doch Nachtschwärmer haben zum „Leeson Strip“ wenig Alternativen. Für die meisten Besitzer dagegen sind die Diskotheken lediglich eine Stufe auf der Erfolgsleiter: Rhona Teehan, „Königin der Leeson Street“ und Inhaberin des „Suesey Street“, will zum Beispiel schon bald einen Gärtner, eine Haushälterin, einen Chauffeur, einen Bentley und einen Aston Martin haben.
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