LESERINNENBRIEFE :
Es darf kritischer sein
■ betr.: „CHE bringt Studiengebühren ins Gespräch“, taz v. 23. 9. 13
Ein wenig kritischer darf’s schon sein. Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) einfach nur als „einflussreiche Denkfabrik“ vorzustellen, ist schon arg beschönigend. Daran ändert auch der nachgeschobene Hinweis nichts, dass es von der privaten Bertelsmann-Stiftung getragen wird. Das CHE ist dem Neoliberalismus verpflichtet und unter anderem eine der treibenden Kräfte bei der Ökonomisierung der deutschen Hochschulen.
Die Forderung nach Wiedereinführung von Studiengebühren unter Hinweis auf die 2020 in Kraft tretende Schuldenbremse scheint mir vor allem darauf zu zielen, mögliche Belastungen von Unternehmen und Großverdienern zu vermeiden, die zu einer besseren finanziellen Ausstattung der Länder beitragen und eine Finanzierung durch diese wieder (!) ermöglichen könnten. Sie ist dem neoliberalen Bestreben geschuldet, den Staat aus ihm ureigenen Bereichen zu verdrängen, ihn auf sogenannte Kernaufgaben zu reduzieren. Dessen soziale Implikationen spielen dabei keine Rolle mehr.
RAINER PÖRZGEN, Lüneburg
„Anschlussverwendung“ suchen
■ betr.: „Christian Lindner kommt“, taz vom 24. 9. 13
Jetzt gibt’s zur Abwechslung mal nichts an die FDP zu verteilen: weder Posten noch Sitze im Bundestag, denn die „Erwirtschaftung“ von genügend Wählerstimmen ist erbärmlich gescheitert. Nun können sich die Politkarrieristen mit der erbarmungslosen wirtschaftslibertären Rhetorik einmal selbst nach einer „Anschlussverwendung“ (O-Ton Rösler nach der Schlecker-Pleite als Rat an die arbeitslos gewordenen Angestellten) umschauen. MANUELA KUNKEL, Stuttgart
Erwachsen werden
■ betr.: „Das Merkel-Gefühl“, taz vom 23. 9. 13
Wer bei Mutti nicht auszieht, wird nie erwachsen … DOLF STRAUB
Protest desavouiert
■ betr.: „Wir sind nicht adäquat“, taz vom 25. 9. 13
Die Analyse von Charlotte Wiedemann und ihre Kritik an der zu großen Genügsamkeit der Deutschen ist sehr treffend.
Allerdings schreibt sie auch: „Nun weckten ein bedrohter Sackbahnhof und die ihn umgebenden Bäume mehr Empathie als gefolterte Kinder. Bäume und Bahnhof sind anfassbar, wird man mir entgegenhalten, und die syrischen Kinder zu weit weg. Aber was sagt das aus über uns?“ Dieser Vergleich ist mehrfach unredlich, denn es ging und geht heute noch bei den Protesten um Stuttgart 21 nie ausschließlich um den Bahnhof, sondern immer auch um mehr Transparenz und demokratische Teilhabe, um rechtsstaatliche Verfahren und Ehrlichkeit; ein solcher Vergleich disqualifiziert jedes lokale bürgerschaftliche Engagement, da in der Tat nichts schlimmer ist als massenhaft gefolterte Kinder.
Man kann aber auch das eine tun, ohne das andere zu lassen, anstatt mit einem Totschlagargument berechtigten Protest in dieser Form zu desavouieren. DOMINIK MARSCHOLLEK, Stuttgart
Lokal denken und handeln
■ betr.: „Wir sind nicht adäquat“, taz vom 25. 9. 13
Was für ein kluger und stilsicherer Kommentar zur Bundestagswahl 2013!
Als Entschuldigung/Erklärung kann ich vielleicht hinzufügen: Viele linke und kritische Geister haben sich von der großen Bundespolitik und den Massendemonstrationen verabschiedet, weil sie direktere und zeitnahe Ergebnisse ihrer Einstellung suchen – in der Realisierung Freier Schulen, lokaler Wasserkraftwerke und alternativer Wohn- und Kulturprojekte. Also: lokal denken und lokal handeln. Ich hoffe aber mit Charlotte Wiedemann, dass diese Zeit der lokalen Genügsamkeit und Berauschung baldmöglichst wieder kompensiert wird. UWE GRANZOW, Freiburg
Die rote oder die blaue Pille?
■ betr.: „Wir sind nicht adäquat“, taz vom 25. 9. 13
Chapeau! Frau Wiedemann legt den Finger in die Wunde unserer Gesellschaft. Wir sind wie der Verräter aus der „Matrix-Trilogie“, der fordert: „Gebt mir mein Steak und ein nettes, sattes Leben. Ich will nicht mehr wissen, dass es nicht real ist.“ Unsere Gesellschaft ist satt an sich selber und hat sich in der Matrix eingerichtet, und Satt revoltiert nicht. Unsere alte, neue Kanzlerin passt perfekt zu uns.
Lothar König rief – nach dem von Frau Wiedemann zitierten Satz – bei der Verleihung des taz Panterpreises in die Stille im Saal: „Habt Ihr mich überhaupt verstanden?“ Und dann wiederholte er: „Frontex macht für euch die Drecksarbeit!“ Ja, er wirkte angetrunken, aber nüchterner als er hätte man es kaum ausdrücken können. Schließlich erntete er einen satten Applaus, einen, der ihn von der Bühne weglobte und zum Schweigen brachte.
Hatte man ihn verstanden? Das würde ich gerne glauben, aber ich fürchte, man will ihn nicht verstehen. Fast jeder will sein Steak und vergessen, dass es nicht real ist. Die Gesellschaft hat sich für die blaue Pille entschieden. Wenn sich daran nichts ändert, werden wir nach der nächsten Wahl vielleicht eine schwarz-blaue Regierung haben. Die AfD steht in den Startlöchern. GABI AUTH, Essen