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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Verbiesterte Demokraten

■ betr.: „Die Lesben sind schuld“, Leserbrief in der taz vom 3. 3. 11

Keine Sorge: Ich bin mir sicher, dass wir in Deutschland über eine ausreichend große Schar von Existenzen mit erstem juristischem Staatsexamen, schauspielerischem Talent und dem Selbstvertrauen, das sich aus adliger Geburt, Macht oder Geld speist, verfügen, aus der wir einen neuen Platzhalter für jedweden politischen Posten in diesem Land rekrutieren können.

Sittlich-moralische Reife scheinen nach den Umfragen weite Teile der Bevölkerung jedenfalls nicht mehr als eine notwendige Voraussetzung für den Beruf des Politikers zu erachten. Ich selbst bräuchte aber deutlich mehr an Untertanenmentalität, als ich habe, um „denen da oben“ regelmäßig Verfehlungen nachsehen zu können, die bei jedem gewöhnlichen Bürger automatisch gravierende Konsequenzen nach sich ziehen würden. Hier befinde ich mich offensichtlich in einer Gesellschaft mit Lesben, Exkommunisten und verbiesterten Demokraten, die den beleidigten Rücktritt des „Familienvaters“* zur Kenntnis nehmen und dabei nicht gleich zu Tränen gerührt sind. Und in eine Wirtschaft, die vor allem Gewinnmaximierung um jeden Preis kennt, passt er mit seinen moralischen Maßstäben auch ganz gut. *Das war ein Zitat. RUTH TEUFEL, Rottenburg

Diktaturverharmlosung

■ betr.: „Guttenberg schneller als Gaddafi“, taz vom 2. 3. 11

Die zumindest ansatzweise subversive Anspielung darauf, dass Guttenberg lange nicht zurücktreten wollte, ist verständlich. Ihn dazu aber mit Gaddafi gleichzusetzen, ist zum einen entwürdigend Guttenberg gegenüber; zum anderen, was entscheidender ist, verharmlost es die libysche Diktatur. Eine Doktorarbeit abzuschreiben ist bestimmt keine Bagatelle – für den deutschen Politikbetrieb. Im Vergleich zum Niederschießen von Demonstranten ist es eine.

MALTE LUTZ, Wüstenrot

Der viel größere Skandal

■ betr.: „Guttenberg schneller als Gaddafi“, taz vom 2. 3. 11

So schlimm Guttenbergs Vergehen auch war, bleibt der viel größere Skandal völlig unbeleuchtet: die Rechtfertigung des Afghanistankrieges, der Umbau der Bundeswehr in eine Interventionsarmee und allem zugrunde liegend das Weißbuch der Bundeswehr, das Interventionseinsätze (= Angriffseinsätze) der Bundeswehr bei Rohstoff-Nachschubproblemen ausdrücklich vorsieht. Die Popularität Guttenbergs ist dazu benutzt worden, die Bevölkerung bei diesen diametral unseren guten politischen Grundsätzen entgegenlaufenden politischen Entscheidungen einzulullen, und die Bevölkerung ist darauf hereingefallen. MARTIN PRAETORIUS, Beedenbostel

Wirtschaftslobbykratie

■ betr.: „Auf dem Scholzweg“, taz vom 22. 2. 11

Der noch stärkere Einfluss der Handelskammer in Hamburg wird dazu führen, dass die Bevölkerung noch mehr für deren Wunschprojekte bezahlen darf in der vagen Hoffnung, dass dann ein paar Arbeitsplätzchen abfallen. Als Gegenleistung dafür darf sie dann weniger mitbestimmen, folgt der Senat dem Handelskammer-Papier „Hamburg 2030“. Die Hamburger SPD will „Mehr Wirtschaftslobbykratie wagen“. Nachhaltige Vorschläge, die allen nützen, sind in der Studie „Zukunftsfähiges Hamburg“ vom Wuppertal Institut zu lesen: kurze Vollzeit für alle mit Ausgleichzahlungen, finanziert durch die eingesparten Kosten der Erwerbslosigkeit. BERND LIEFKE, Hamburg

Die Kriegstrommel wird gerührt

■ betr.: „Somalia am Mittelmeer?“, taz vom 3. 3. 11

Die Volkserhebungen in Nordafrika haben die politischen Eliten überrascht und irritiert. In Libyen scheint es noch um einiges ernster zu werden, da wirtschaftliche Interessen ganz massiv berührt sind. Prompt hören wir, wie die Kriegstrommeln gerührt werden, und es finden sich wieder einmal, wie auch bei Jugoslawien, Irak oder Afghanistan, die eifrigen Vertreter militärischen Eingreifens. Es interessiert nicht, was die Kriegseinsätze bisher im Ergebnis gebracht haben, wie viele Opfer sie gekostet haben und weiterhin täglich kosten. Die Kanzlerin hat soeben ihren neuen „Verteidigungsminister“ vorgestellt. Was und wo verteidigen wir eigentlich noch? Gesagt wird, die Menschenrechte müssen verteidigt werden und das, wie wir inzwischen wissen, an jedem Ort der Welt. Menschenrechtsverletzungen lassen sich unschwer feststellen, solche, die selbst mit inszeniert, lange Jahre übersehen und sanktioniert wurden, weil es doch den eigenen Interessen nutzte. ROLAND WINKLER, Remseck