Kurswechsel in der SPD: Plötzlich links
Vizekanzler Sigmar Gabriel will sich von der Kanzlerin absetzen und die EU sozialer gestalten. Aber wer nimmt ihm das ab?
ATHEN/BERLIN taz |Der Retter der Europäischen Union sitzt in einem Stuhlkreis in der Altstadt von Athen. Genauer gesagt sitzt er mit 24 griechischen Jugendlichen im ersten Stock des Impact Hub, eines hippen Bürogebäudes mit lackierten Dielen und Backsteinwänden. Normalerweise kommen junge IT-Unternehmer hierher, die eine gute Idee haben und nur noch einen Schreibtisch brauchen, um damit reich zu werden.
Der Retter der Europäischen Union hat allerdings Größeres vor. „Wir müssen versuchen, wieder Verständnis füreinander zu entwickeln“, sagt er. Mit dieser Idee will der Mann aus Goslar den Kontinent einen – und nebenbei eine Wahl gewinnen.
Sigmar Gabriel, Vizekanzler, Wirtschaftsminister und SPD-Chef, hat eine neue Mission. Und die heißt: Europa retten. Ob es mit der Rettung klappt, ist selbstverständlich noch nicht ausgemacht, aber nicht weniger als eine „Neugründung Europas“ will Gabriel. So steht es in einem Zehn-Punkte-Plan, den er mit seinem Freund Martin Schulz verfasst hat dem Präsidenten des EU-Parlaments.
Die SPD veröffentlichte den Plan in der vergangenen Woche, als das Ergebnis des Brexit-Referendums gerade ein paar Stunden alt war. Gabriel hatte diesen Zug für den Fall des Falles gut vorbereitet. Wie so oft bei ihm mischen sich hier taktische Motive, eine sehr eilige Angriffslust und echte Überzeugung.
Gabriel wird bei der Wahl 2017 wohl als SPD-Kanzlerkandidat Angela Merkel von der CDU herausfordern, mit der er – wenn nichts dazwischenkommt – noch ein Jahr zusammen regiert. Sein Zehn-Punkte-Plan liest sich wie eine brachiale Kritik von Merkels Sparpolitik. Eine „Politikwende“ fordern die beiden Top-Sozis, Staaten müssten im Abschwung mehr Geld für Arbeitslose und Investitionen ausgeben dürfen. Die „beschämend hohe Jugendarbeitslosigkeit“ gehöre bekämpft, es brauche eine „industrielle Renaissance in Europa“.
Rezept für die Wende
Das ist nicht nur ein neuer, linkerer Sound in der Sozialdemokratie, das ist auch eine klare Distanzierung. Die Bundeskanzlerin hat in Europa bisher auf harte Reformen gesetzt. Hilfe nur für den, der sich anstrengt – dieses Motto setzten Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) in der europäischen Krise durch.
Ausgerechnet in Griechenland stellt Gabriel jetzt sein Gegenprogramm vor. Genau eine Woche nach dem britischen Referendum fliegt er nach Athen, eilt vom Präsidenten zum Ministerpräsidenten, dann zum Wirtschaftsminister, zum Energieminister, am Ende zum Finanzminister. Überall präsentiert er das Rezept, das er sich für die Wende in Griechenland zurechtgelegt hat.
Erstens: Die Griechen haben in den vergangenen Monaten ordentlich gespart, das soll der Rest Europas ruhig anerkennen. Zweitens: Private Investoren kommen nur ins Land, wenn sie Planungssicherheit haben. Die griechische Regierung soll dafür sorgen, dass sich zum Beispiel die Steuersätze nicht ständig ändern. Drittens: Griechenland und die anderen Krisenländer brauchen staatliche Investitionen. Die EU muss dafür mehr Geld zur Verfügung stellen als je zuvor.
Drei wichtige Fragen lässt er aber offen: Wie viel Geld? Woher? Und ab wann?
Weil die Pläne der Sozialdemokraten bislang vage sind, bleiben CDU und CSU gelassen. Peter Ramsauer zum Beispiel, der mit Gabriel nach Athen gereist ist. Der Bundestagsabgeordnete aus Oberbayern gilt nicht als großer Freund der griechischen Regierung. Im Bundestag stimmte er im vergangenen Jahr gegen neue Griechenland-Kredite. Und jetzt, im Büro von Alexis Tsipras, muss er sich mit einem Fotografen herumstreiten.
Der griechische Ministerpräsident empfängt Gabriel in der Villa Maximos, seinem Amtssitz. Ramsauer schaut aus der zweiten Reihe zu, als sich ein griechischer Fotograf an ihm vorbeirempelt. Der CSU-Politiker herrscht den Mann an, erst auf Deutsch, dann noch mal auf Englisch. Ramsauer ist keiner, der sich alles gefallen lässt.
Die Offensive des SPD-Chefs lässt ihn aber kalt. „Der lässt halt ein wenig den Juso raushängen“, sagt er nur.
Die Union schaut in Ruhe zu, wie sich die Sozialdemokraten nach dem Brexit selbst verleugnen. Die SPD ist ja nicht nur seit 2013 an der Koalition beteiligt. Sie hat zuvor auch in der Opposition alle europapolitischen Entscheidungen von Schwarz-Gelb mitgetragen. Gabriel erklärt also im Nachhinein für falsch, was seine Partei – zugegeben unwillig – die ganze Zeit mittrug.
Und so wirft sein Kurswechsel Fragen auf: Macht Gabriel Ernst? Will er tatsächlich ein sozialeres Europa – und, ganz nebenbei, die SPD kurz vor dem Wahljahr neu positionieren? Oder ist der Vorstoß nur eine neue Laune von Gabriel, was bei ihm nie ausgeschlossen ist?
Wie irritierend die ambivalenten Signale Gabriels sein können, zeigte sich schon vor einem Jahr, als die deutsche Politik monatelang kein anderes Thema kannte als das hochverschuldete Griechenland. Gabriel warb bereits damals für Wachstumsprogramme, funkte also solidarische Signale nach Griechenland. Dann aber, als sich die Deutschen von der linken Syriza-Regierung genervt fühlten, veröffentlicht er einen denkwürdigen Debattenbeitrag in der Bild-Zeitung.
„Wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen.“ Gabriel bediente das Klischee, mit dem das Boulevardblatt seine Schmutzkampagne gegen die angeblichen „Pleite-Griechen“ orchestrierte. Kein deutsches Geld für griechische Luxusrentner.
Und jetzt wirbt er ernsthaft für Wachstumsprogramme und Völkerverständigung in Europa?
Wahrscheinlich weiß auch Alexis Tsipras nicht so genau, was er seinem Gast aus Deutschland glauben kann. Der griechische Ministerpräsident legt sich aber ins Zeug. Auf dem Sofa seines Arbeitszimmers redet er auf Gabriel ein. „Europa läuft herum wie ein Schlafwandler“, sagt er. „Ich hoffe, der Brexit ist ein Weckruf. Wir müssen die Austerität durch Wachstum ersetzen!“
Tsipras will seine Chance nutzen. Seine Wähler haben genug vom Sparen, gerade erst haben sie gegen neue Rentenkürzungen demonstriert. Jetzt, nach dem Brexit, hofft er auf Nachsicht der Europäer. In Gabriel wittert er nach dessen jüngsten Äußerungen einen Verbündeten. Aber kann er dem Deutschen trauen?
Beim Zuhören legt der SPD-Chef seine Hände in den Schoß. Sie formen eine Raute: Daumen an Daumen, Zeigefinger an Zeigefinger, so wie es Angela Merkel immer macht. Schließlich, als Tsipras fertig ist, rattert Gabriel seine drei Punkte herunter. „Wir brauchen eine Wachstumsagenda für Europa“, sagt er am Ende. Dabei spricht er leise, ganz so, als solle ihn der griechische Ministerpräsident bloß nicht zu gut verstehen.
Tatsächlich sollte die Regierung in Athen nicht damit rechnen, dass die EU über Nacht einen neuen Wachstumsfonds in Milliardenhöhe aufstellt – Gabriel hin oder her. So ein Programm würde allein schon an der Bundestagswahl im nächsten Jahr scheitern: Würde das Vorhaben konkret, würde Brüssel die Deutschen um einen neuen Beitrag für Investitionen im Süden bitten, CDU und CSU würden da wohl kaum mitmachen. Zu groß wäre die Angst, noch mehr Stimmen nach rechts außen zu verlieren, an die AfD.
Die SPD könnte die Zeit bis zur Wahl aber nutzen, um eine neue Erzählung über Europa und die Krise zu verankern. An diesem Punkt mischen sich bei Gabriel taktisches Kalkül und echte Überzeugung.
Gabriel, dessen Vater ein überzeugter Nazi war, hasst Nationalismus in jeder Form, sein Werben für Europa hat eine tiefe, biografische Komponente. Dass EU-Gegner bei Wahlen und Referenden gerade in Arbeitervierteln so gut abschneiden, geht ihm gegen den Strich. Um diese Wähler zurückzugewinnen, wird er in den nächsten Monaten so argumentieren, dass es auch die Facharbeiter überzeugt: Nur wenn es den europäischen Nachbarn gut geht, können sie unsere Produkte kaufen. Nur wenn wir unsere Produkte verkaufen, können die Löhne steigen. Und deshalb brauchen wir Europa.
Kein Wort über die Troika
Am Donnerstagabend steht Gabriel im Konferenzsaal des Hilton-Hotels. Wenn es für die Griechen ein Symbol der Krise gibt, dann ist es dieses Gebäude: Die verhasste Troika der internationalen Geldgeber rückte regelmäßig hierhin an, verbunkerte sich hinter Hundertschaften der Polizei und verkündete der Regierung neue Sparauflagen. An diesem Ort will der deutsche Vizekanzler jetzt ein neues Zeichen setzen. Er spricht nicht über die Troika. Er spricht nicht über seinen Beitrag in der Bild-Zeitung. Er steht auf der Bühne und spricht über die Zukunft.
„Der Süden Europas sieht im Norden oft diejenigen, die immer neue Sparvorgaben mache. Der Norden sieht im Süden oft diejenigen, die sich nie an Regeln halten. Beide Ansichten sind falsch“, sagt Gabriel. Dann appelliert er an die Gäste im Saal, an Politiker und Unternehmer aus Griechenland und Deutschland, ganz so wie zuvor bei den Jugendlichen im Stuhlkreis: „Gerade in der Situation nach dem Brexit müssen wir alles versuchen, um uns zumindest wieder besser zu verstehen.“
Das ist tatsächlich eine Botschaft. Mehr aber auch nicht. Zumindest nicht in diesem Moment.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?