: Kulturkonserven und Begriffswildnis
■ „Schachtelhalm Mülldiät“: Lothar Baumgarten im Frankfurter Portikus
Immer wenn ich über Lothar Baumgartens frühe Arbeiten aus den Siebzigern nachdenke, hänge ich einen Gedanken lang bei dem einen Nachteil seiner Ausstellungspublikationen fest: Seine Kataloge repräsentieren nicht das Gezeigte, sondern gehen als Publikation ihren eigenen Weg. Damit eröffnen sich den Ausstellungen weitere Räume, aber ein rückwärtiges Vergleichen der Arbeiten wird sehr schwierig. Verbindungen, wie sie Baumgarten jetzt mit dem Plakat für die Frankfurter Portikus- Ausstellung anbietet, sind über das publizierte Material nicht zu ziehen. Eine Detailaufnahme einer Arbeit von 1972 – zwei Frösche, die aus einem Damenschuh glotzen – kündigen seine Wandarbeit „Ausblendung“ an: Auf die Innenwände des Portikus sind zweifarbige Wortpaare aufgemalt, Ellipsen bildend und sich über die Raumecken ziehend.
„Manipulierte Wirklichkeit“ nennt Baumgarten seine frühen Arbeiten. Dieser Begriff und die damit bezeichneten Werke sind wichtig für das Verständnis seiner Schriftarbeiten. Es ist ein Gemeinplatz, von der Schrift als Speicher von Kultur zu sprechen. Das kulturelle Wissen ist eingelagert in Worte, deren Wert und Bedeutung weniger vom Bezeichneten geprägt ist, als von den Umgangsweisen und implizierten Referenzen. Baumgartens Interesse gilt nicht den bezeichneten Dingen, sondern dem Speicher selbst. Die Worte versperren sich semiotischen Entschlüsselungsversuchen. Entscheidend ist ihre Qualität als (Sprach-)Bilder. Ob in seiner permanenten Arbeit im Frankfurter Museum für Moderne Kunst („Frankfurter Brief“, 1989 bis 1991) oder seinem Beitrag zur letztjährigen documentaIX („Entenschlaf“, 1992) oder jetzt im Portikus – die Aufreihung der kruden Substantive ist ein Wegplan durch den Speicher. „Kapitalmystik, Restrisiko, Bündnisfalle, Kettenverträge, Einheitstaumel“ steht auf einer der Wände im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, „Nullstellung, Karteileiche, Gemütspflege, Mutationssprung“ war in Kassel zu lesen. Manche der Worte sind schon von der Wirklichkeit überholt. Ihr Kontext ist verlorengegangen – aber erhalten bleibt das Denkgestell, das zu ihrer Bildung führt und in der Wortkombination an das Konstruktionsgerüst erinnert, an das Vorbeilügen.
Genauso wie Baumgarten in seinen frühen Arbeiten Natur und Kultur unter dem Blickwinkel einer „manipulierten Wirklichkeit“ konfrontierte, so wachsam ist er jetzt der Schrift gegenüber. Und in den mehr als 20 Jahren künstlerischer Praxis gilt seine Aufmerksamkeit auch den Ausstellungssituationen. Baumgarten zieht nicht mit einem festen Atelierrepertoire durch die internationale Ausstellungswelt, sondern nimmt am Ort vorhandene Aspekte als Ausgangspunkt seiner Präsentation. Im Portikus ist es das Portal, ein Relikt der ehemaligen Stadtbibliothek Frankfurt. Auf dem Fries steht „Recuperata, Libertate, Literis, Civitas“. Diese Begriffe sind in die Publikation zur Ausstellung aufgenommen, eine vierseitige Beilage der Frankfurter Rundschau: Anstelle der üblichen Rubriknamen tauchen die Begriffe oben auf der Seite wieder auf und geben das Ordnungswort für die darunterstehenden großgedruckten Wortreihen. Auch hier sind Wortpaare zusammengestellt: „Schachtelhalm Mülldiät, Erfolgsnische Wegerich, Wendehammer Männertreu“, das letzte Wortpaar unter der Rubrik „Civitas“: „Wanderratte Herzgespann“. Der deutsche Zeitungsalltag ist Herkunftsort der einen Wortgruppe. Die andere – und hier steht die Bibliothek Pate – besteht aus enzyklopädischen Worten, aus Tier- und Pflanzenbezeichnungen. Die Publikation führt die Zeitungsblüten zurück zu ihrem Herkunftsort, an ihrer Seite altehrwürdige Wort-Kollegen mitziehend. Die Frage der Vergleiche und Konfrontationen, der Frösche im Schuh, führt zu den Ordnungsprinzipien. Im Zeitungsraum funktionieren die Worte als Ordnungsträger eines sozialen Klimas. Im Raum der Publikation erzählen die Wortpaare von den Details, im Ausstellungsraum kommt eine architektonische Qualität hinzu, denn die Schrift gibt Bewegungsrichtungen und Maßstäbe an. In den von Baumgarten eingerichteten Räumen sind die Worte nicht Repräsentanten und Funktionsträger des Denkgerüstes, das zu ihrer Bildung geführt hat, sondern eigenständige Schriftbilder. Statt einer Dekodierung ist ein geduldiges und assoziationsoffenes Lesen notwendig, um die Verbindungswege durch die Speicher, durch Kulturkonserven und Begriffswildnis zu finden. Sabine B. Vogel
„Schöne Aussicht 2“, Portikus Fankfurt, bis 14.November.
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