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■ VLBKugeln & Klöben

Das Problem mit Wolfgang Welsch ist wahrscheinlich, daß er Max Goldt nicht kennt; und wer den nicht kennt, der soll von zeitgenössischer Vernunftkritik schweigen, denn Max Goldt erfährt und denkt wirklich in Übergängen. Wer Goldt liest weiß, daß man sich in ihnen nicht verliert, sondern gewinnt, und daß man dabei übereinstimmungsfähiger wird mit Dingen und Menschen, daß man dadurch auch in sich reicher und bei aller Vielfalt einträchtiger werden kann. Allein die zwei Seiten Register des neuen Buchs von Max Goldt, „Die Kugeln in unseren Köpfen“, leistet mehr für die zeitgenössische Vernunftkritik als Welsch mit seinen „Maximen der Vielheitsbeachtung, des Spezifitätsbewußtseins, der Aufmerksamkeit auf Alternativen“. Nehmen wir nur den Buchstaben S; da findet sich: Scheißstaat; Schlangengeschäft; Schlammgrube; Schmierkäsedreiecke; Schmorbraten; Schmusen auf Italienisch; Schnecken; Schneebesen; Schulklasse, kaugummikauende; Schwitzen; Seattle-Bart; Sekrethämmerchen; Sickergrube; SPD-Aschenbecher; SPD-Schreckschraube; Sterbefuton; Straußensteak-Testwochen und und und. Das nenne ich Vielheitsbeachtung, Spezifitätsbewußtsein, Aufmerksamkeit auf Alternativen!

Das „Kugelbuch“, um einem von Goldt selbst geprägten Namen aufzugreifen, ist nicht ganz so gut wie das „Quittenbuch“ von 1993, dessen Fortsetzung es bildet. Im Quittenbuch sind die Titanic-Kolumnen 1 bis 47 versammelt, im Kugelbuch die Nummern 48 bis 71. Nein, ich sollte vorsichtig sein mit solchen Urteilen. Ich kann die beiden Bücher womöglich gar nicht mit gebührender Unvoreingenommenheit vergleichen. Das ist ein Problem der Rezeptionssituation. Das Quittenbuch habe ich nämlich seinerzeit in einer Lage gelesen, in der sich alles auf traumhafte Weise fügte, um die Goldtsche Prosa funkeln und blitzen zu lassen. Ich mußte in die Bachmann-Stadt Klagenfurt reisen, um für diese Zeitung vom dortigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb zu berichten. Ich fuhr mit dem Nachtzug und hatte einen Bettplatz in einem Schlafwagenabteil für drei Personen. Beim Schaffner hatte ich mich mit dem überteuerten Mitropa- Bier für 4,80 Mark pro Dose eingedeckt und es mir schon in meinem Bett bequem gemacht, als die beiden Mitreisenden auftauchten: ein sehr dickes junges Paar, das sich im Handumdrehen mit geschickten Bewegungen auf engstem Raum bettfertig machte, küßte, hinlegte und zu schnarchen begann. Das Bier war köstlich; die Sägegeräusche hielten mich wach und erlaubten mir so, das Buch in einem Rutsch bis zum Morgengrauen zu lesen; durch Einnahme der Goldtschen Texte fühlte ich mich für die kommende Woche voller mutmaßlich mittelmäßiger Dichterlesungen wie schutzgeimpft.

Die Dichterlesungen waren dann zum Teil gar nicht so schlecht, aber verglichen mit „Ich beeindruckte durch ein seltenes KZ“, einem Text, den dringend irgendjemand Lea Rosh zustecken sollte, waren die verlesenen Proben eben doch zweite Liga. Warum wurde Max Goldt nicht nach Klagenfurt eingeladen? Ich beschloß für mich, daß man einen Preiswettbewerb wie diesen, bei dem unbequeme Mahner wie Max Goldt ausgegrenzt und mundtot gemacht werden, als Literaturwettbewerb nicht wirklich ernst nehmen könne. „Ausgegrenzt“ und „mundtot gemacht“ – das wird mancher für übertrieben halten; aber letztens hat der Verleger von Botho Strauß behauptet, so halte man es mit seinem Autor, und da hat auch niemand wiedersprochen – also basta! (Viele Monate später, als ich ihm vorgestellt wurde, sagte ich zu Max Goldt in zugegeben plump schmeichelhafter Absicht, wenn jemandem der Bachmann- Preis gebühre, dann ihm. Er wies das aber ein bißchen ärgerlich zurück, was mich noch mehr für ihn einnahm.)

Kurz gesagt: Vielleicht ist das Kugelbuch doch genauso gut wie das Quittenbuch. Ich muß nur nach einem funktionalen Äquivalent für die Schlafwagenfahrt suchen. In der übernächsten Woche liest Günter Grass in einem Ostberliner Veranstaltungshaus namens Kulturbrauerei. Da muß ich hin, um für diese Zeitung darüber zu berichten. Ich werde das Kugelbuch mitnehmen und in der Straßenbahn auf dem Weg zur Grass-Lesung noch einmal Kolumne Nr. 58 mit dem schönen Titel „Ich wollte, man büke mir einen Klöben“ lesen. Selbst wenn diese Fahrt, was die rezeptionsästhetischen Reize angeht, nicht an das Schnarchabteil heranreichen sollte – gegen den Grassschen Riesenschmonzes wird mich die Lektüre doch hoffentlich imprägnieren.

Max Goldt: „Die Kugeln in unseren Köpfen“. Haffmanns Verlag, 219 Seiten, geb., 28,50 DM.

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