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Küß Röslein Jelzin wach, Prinz Bush!

■ Richard von Weizsäcker als Bruder Grimm in den USA

Washington (dpa/ap/taz) — Vor dem amerikanischen Kongreß wurde der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum Märchenonkel: Wie der Prinz, der Dornröschen aus langem Schlaf erweckte, sollten die USA Osteuropa wachküssen, denn „Dornröschen verkörpert Leben, Freiheit und das Streben nach Glück für die ganze Menschheit, wachgeküßt vom Prinzen... Wir alle wissen, daß es vielleicht noch einiger Küsse bedürfen wird, um die volle Schönheit zu enthüllen, doch wir vertrauen auf des Prinzen unwiderstehliche Dynamik“, schwärmte der Präsident.

Des Märchenhaften entkleidet, lautetete Weizsäckers Kunde vom kontinentalen politischen Zungenkuß: Die USA müßten ihre weltweite Führungsrolle auch gegenüber Osteuropa wahrnehmen. Die von Bush Deutschland angebotene „Partnerschaft in der Führung“ nahm Weizsäcker als „Partnerschaft in der Verantwortung“ an. Den Ländern Osteuropas gegenüber habe man gemeinsame Interessen, da ihre Probleme alle angingen: unsichere AKWs, atomare Altlasten, „herumvagabundierende Atomsprengköpfe“, Unruhen aus ethnischen, religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Deutschland werde trotz der wachsenden Schwierigkeiten des Einigungsprozesses ein zuverlässiger Gefährte der USA bleiben. Ein „Thank you, America“, rief der Präsident herzlich aus, als er sich der beiderseitigen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg bis zum Fall der Mauer erinnerte.

Die frohe Botschaft hörten jedoch nur wenige Spitzenpolitiker des Gastgeberlandes: bis auf zwanzig hatten alle Abgeordneten ihre Plätze Parlamentsmitarbeitern und Diplomaten überlassen. Die Profis wußten die Märchenstunde als das einzuschätzen, was sie war: als Schaufensterrede für die Medien.

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