Kürzungen in der Jugendarbeit: Das zweite Zuhause
Jugendclubs und Bauspielplätze sind in Hamburg von der Schließung bedroht. Ein Besuch an drei Orten, an denen Kinder gern ihre Freizeit verbringen.
HAMBURG taz | Montagnachmittag im Jugendcafé Altona-Altstadt. Marouen (15) kommt mit einem Freund herein und legt vor Betreuerin Susa Neukirch zwei Tütchen mit chinesischer Nudelsuppe auf den Tresen. Neukirch holt zwei Schüsseln und bringt heißes Wasser, die beiden Teenies setzen sich und genießen ihren Snack. Ein eingespieltes Ritual. Sie sei ja froh, dass die Kinder die Nudeln nicht trocken essen, sagt die Pädagogin.
Der Raum füllt sich. Weiter hinten neben Billardtisch und Spieleregal lümmeln sich die Jugendlichen in der Sofaecke. Aber nicht mit den Füßen auf dem Polster. Es gibt hier Regeln und gelbe und rote Karten. Trotzdem fühlen sich die Jungen wohl. „Ich bin immer nach der Schule hier. Das ist unser Wohnzimmer“, sagt der 14-jährige Dimas. Am meisten gefalle ihm das gemeinsame Kochen am Mittwoch. Auch Marouen kommt regelmäßig, obwohl er auf eine Ganztagschule geht. „Manchmal habe ich Glück. Da geht die Schule nur bis 14 Uhr“, sagt er. „Schule nervt … Schule nervt“, singt ein Junge, der hinter ihm hin und her geht. Warum? „Da hacken sie immer auf den selben rum.“
"Das rockt hier"
In Hamburg gibt es rund 250 Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit, die 30.000 Menschen regelmäßig besuchen.
Laut Haushaltsentwurf will die Stadt ab 2013 den Etat dafür um zehn Prozent von 33,6 auf 30,1 Prozent senken. Wo gespart wird, sollen die Bezirke entscheiden.
Seit einer Woche sind Sparlisten für die Bezirke Altona, Harburg und Bergedorf bekannt. Aus Wandsbek, Nord, Eimsbüttel und Mitte gibt es noch keine Pläne.
Begründet wird der Sparkurs unter anderem mit dem Ausbau der Ganztagsschulen. Ab Schuljahr 2013/14 sollen 197 der insgesamt 204 Grundschulen auch nachmittags etwas bieten. Deren Qualität ist umstritten.
Insgesamt soll der Sozialetat um 67,5 Millionen Euro gekürzt werden. Die Einsparungen treffen auch Kinder-Kuren, Integrations-Projekte und Sportvereine.
Zwei Mädchen kommen rein. Das es hier so viele Jungs gibt, störe nicht, sagt Sertap. Sie kenne die von klein auf. „Das rockt hier, weil man mit Freunden nicht draußen sein muss“, sagt die 16-Jährige. „Es ist so chillig hier und man kann mit denen über alles reden. Es ist unser zweites Zuhause und im Winter bekommen wir heißen Tee.“
Mit „denen“ meint sie Sozialpädagogin Susa Neukirch und Erzieher Hasan Toptik, die vor einer Woche fast in Ohnmacht fielen, als eine Streichliste aus dem Jugendamt Altona die Runde machte. „Standortoptimierung“, wird dort die ab Januar 2013 geplante Schließung dieses Treffs genannt. Dabei macht das Juca-Altstadt schon das, was von der Politik gefordert wird. Bietet Kooperationskurse mit Schulen an, ist Anlaufpunkt für niedrigschwellige Einzelfallhilfen. Doch die Betriebskosten für den Treff stehen auf der Streichliste, die die Bezirke bis zur Sommerpause aufstellen müssen, damit der Sozialetat im Ganzen nicht mehr als 0,88 Prozent steigt und Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) seine Sparziele erreicht.
Die anderen Jugendtreffs in Altona seien weit weg, schimpft Sertap. „Da gehen wir nie hin.“ Aber an diesem Nachmittag wollen sie in den Jugendhilfeausschuss Altona, um zu fragen, was es mit der Streichliste auf sich hat. Auch zwei Nachbarinnen kommen mit. „Es wäre schlimm, wenn sie das Jugendcafé zumachen“, sagt Anna Damaeng. „Dann wissen die Kinder nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen und kommen auf dumme Gedanken.“ Sie wohne seit 30 Jahren in dem Viertel. Früher, bevor 1992 das Juca eingerichtet wurde, habe es wilde Zeiten gegeben. „Das hat sich gebessert.“
Es nieselt. Der Weg zum Ausschuss quer durch Altona ist ganz schön weit. Und als die Jugendlichen auf den Zuschauersitzen Platz nehmen, gibt es eine Enttäuschung. Fragen zu den Kürzungen dürfen in der öffentlichen Fragestunde nicht gestellt werden. Dies müsste schriftlich beantragt werden, sagte der Vorsitzende. Anders als üblich, hält er sich streng an Formalien.
Angewandte Physik auf dem Spielplatz
Schlecht vom Jugendamt informiert sehen sich auch die Mitarbeiter des Elbe-Aktiv-Spielplatzes ein paar Kilometer weiter westlich in Groß Flottbek. Es ist Dienstagnachmittag, Feuer brennt auf dem Bauspielplatz, Kinder, die nach der Schule hierher kommen, wuseln zwischen den selbst gebauten Hütten herum. Es gibt Türmchen, Brücken, Seile, Schaukeln, der Spielplatz sieht aus wie eine Filmkulisse für einen Abenteuer-Kinderfilm.
Sascha und Kirill kommen auf den Platz, klatschen bei Erzieher Niklas ab, und verschwinden in ihrer Hütte. Der zwölfjährige Paul ist mit seinem kleinen Bruder da, zeigt ihm eine Hütte, die er mit einem Freund gebaut hat, bevor die Schule ihm zu viel Zeit abverlangte.
Zwei anderen Jungen balancieren eine schwere Stange herum. Sie soll als Rutsche von dem Hochplateau einer Brücke zum Boden führen. „Das hält. Ich hab das mit Elefantennägeln befestigt“, beteuert Justin. Pädagogin Dolores Ribas ist skeptisch und hebt den Stab von unten leicht an. „Ihr müsst noch was dagegen tun, dass sie sich bewegt“, sagt Ribas. Vielleicht noch ein Brett dagegen nageln. Das sei angewandte Physik, erklärt sie später. „Hier können Kinder scheinbar sinnlose Sachen machen. Können sich bewegen und verausgaben, ohne dass einer Leistung erwartet.“
Doch auch die Zukunft dieses 40 Jahre alten Bauspielplatzes – vis à vis des Elbe-Einkaufszentrums – scheint plötzlich nicht mehr sicher. Die Formulierung zum Elbe-Aktiv-Platz auf der Sparliste ist doppeldeutig. „Standortoptimierung nicht möglich, da einzige Einrichtung. Fazit: Aufgabe der Einrichtung, 3. Priorität“, steht in dem inzwischen auch im Internet zugänglichen Geheimpapier, zu dem sich das Bezirksamt nicht äußert. Da in der daneben stehenden Spalte für Einsparungen eine Null steht, könnte dies auch heißen, dass die Einrichtung erst mal erhalten bleibt.
„Ich bin dankbar, dass es den Platz hier gibt“, sagt Corinna Chachatté. „Wenn man den Platz schließen würde, dann wohl, weil das Grundstück so wertvoll ist.“ Sie ist Mutter eines siebenjährigen Jungen und hilft ehrenamtlich Kindern bei den Hausaufgaben. Einer Siebtklässlerin zum Beispiel, die in ihrem Matheheft gerade mit der Bedeutung vom doppeltem Minus kämpft.
Kirill und Sascha zeigen stolz ihre Hütte, an der sie schon drei Jahre bauen. Der 1. Stock hat sogar einen Balkon, da müssen jetzt noch Seitenbretter dran. Auch Sascha geht auf eine Schule, die bis in den Nachmittag geht. Und doch ist dies für ihn kein Ersatz. „Hier kann man machen, was man will und lernt andere Kinder kennen“, sagt Kirill. Hier mischen sich Kinder verschiedener sozialer Schichten, aus Elbvororten und Hochhausgebieten.
Ein pädagogischer Ziegenbock
Mittwochnachmittag, es regnet. Der Bauspielplatz Tweeltenmoor in Hamburgs Norden sieht auf den ersten Blick verlassen aus. Doch im großen Gruppenhaus ist was los. In der Küche kitzelt ein Junge seinen jüngeren Freund. Bedenklich? „Die haben ihren Spaß“, sagt Bauspielplatz-Leiter Georg Abschlag. Mädchen holen sich Reiterhelm und Gummistiefel, um auf die Weide zu gehen. Hier gibt es nicht nur Bauholz, Werkzeug und Feuer, hier gibt es Pferde, Esel und Ziegen. „Tiergestützte Pädagogik“, wie Abschlag erklärt. Die Tiere helfen, eine Beziehung zu den Kindern aufzubauen.
Dann ereignet sich Dramatisches. „Wilma humpelt“, ruft ein Mädchen, das in die Hütte stürmt. Sie gehört zur Weidegruppe, ein Team von 14 Mädchen, die sich täglich um vier Ponys und vier Esel kümmern, sie pflegen und Reiten „für Kinder von Kindern“ anbieten. Ein Renner. Am Wochenende kommen bis 90 Eltern mit ihren Kindern.
Und dann sind da die Ziegen. Aus pädagogischen Gründen, um das Thema Geburt zu behandeln, wurde Charly, ein Ziegenbock angeschafft. Zwei Zicken haben vor einer Woche geworfen. Ein Ziegenbaby war tot, ein anderes lag einfach so auf der Erde, ohne dass Kinder und Betreuer wussten, wer die Mutter war. Aber drei Ziegenbabys leben. „Die sind so süß“, schwärmt ein neunjähriges Mädchen.
„Wir haben es eine Woche rund um die Uhr gefüttert, morgens, mittags, nachts“, erklärt Abschlag. Am Wochenende übernahm eine Nachbarin, die früher selber Bauspielplatzkind war, die Pflege. Ihr Freund kommt vorbei. Er habe den Eindruck, das Kleine friere und will eine Wärmelampe für das Zicklein besorgen.
Georg Abschlag ist Pädagoge mit Leib und Seele, erzählt und erzählt und berät nebenbei mit den Mädchen über den humpelnden Esel. Es sei wichtig, dass die Tiere nur kurz auf der Weide seien. „Sonst fressen die sich tot.“
Esel Wilma trottet aus dem Stall. Abschlag lässt ein Mädchen die Hufe auskratzen und dann fühlen, ob der Fuß heiß ist. Wenn ja, könnte es eine Entzündung sein, dann muss der Tierarzt her. Derweil führen die anderen Mädchen die übrigen Tiere am Strick über die Weide. „Reiten geht heute nicht, dafür ist es zu nass“, erklärt Merle (13). Aber die Tiere brauchen Bewegung. Sie komme fast jeden Tag her, so früh es geht, sobald die Ganztagsschule zu Ende ist.
Weiter hinten auf der Weide streiten zwei Mädchen, wer wie lange jede die Zügel halten darf. Es gibt Tränen. Um fünf Uhr ist Weidesitzung, da werden solche Konflikte besprochen. „Da geht es oft hoch her“, sagt Abschlag. „Die Kinder lernen, sich auseinanderzusetzen.“
Auch dieser ganz besondere Platz am Rande einer Hochhaussiedlung ist von Kürzung bedroht. Aus dem Bezirk Nord sind aber noch keine Sparlisten bekannt. Die Rede ist von zehn Prozent. Der Bauspielplatz und der daran angeschlossene Jugendclub haben drei Stellen und ein Budget von 170.000 Euro. „Wenn die uns 17.000 Euro kürzen, bricht uns das den Hals“, warnt Abschlag. Man müsste Honorarkräfte entlassen und Öffnungszeiten reduzieren.
Die offene Kinder- und Jugendarbeit werde weiter dringend gebraucht. „Sie hat aber leider keine Lobby“, sagt Abschlag. Auch dieser „Baui“ kooperiert bereits mit Schulen, gibt gemeinsame Kurse. „Das ist aber ein anderes Arbeiten als wenn die Kinder über Jahre hier sind“, sagt er. „Hier gibt es keine Leistungsanforderungen. Wir vergeben keine Noten für das Hüttenbauen.“
Im Altonaer Ausschuss durften die Jugendlichen am späteren Abend doch noch fragen, ob ihr Juca geschlossen wird. Sie erhielten aber keine Antwort. Es handele sich um vertrauliche Daten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“