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■ GastkommentarKritischer Patriot

Wenn es bei dem Staatsakt heißen wird, daß sich dieser Mann um sein Vaterland verdient gemacht hat, dann ist das eine nicht anzuzweifelnde Wahrheit, mögen sich in der Trauergemeinde auch manche finden, die in Willy Brandt vor zwei Jahrzehnten nicht den Gegner sahen, sondern den Feind. Zur ganzen Wahrheit gehört, daß der einzige authentische Widerstandskämpfer auf dem Bonner Kanzlerstuhl, ein Schwieriger, nicht allein für das schwierige Vaterland Großes ausgerichtet hat. Auf andere Weise als John F. Kennedy, der Amerikaner, aber doch ähnlich in der Unbedingtheit seines Credos, daß sich Politik mit moralischen Kategorien verbünden und über den Tag hinaus auch visionäre Ziele anstreben muß, hat der Mann aus Lübeck viele Menschen auch jenseits der deutschen Grenzen zu inspirieren gewußt. Das Wort vom Hoffnungsträger ist verschlissen, weil so mancher, dem solch ein Titel wohl vorschnell verliehen wurde, diese Hoffnungen enttäuscht hat. Nicht Willy Brandt. Er blieb, von seinen Anfängen in Berlin bis zur Abfassung seines politischen Testaments an die Adresse der Sozialistischen Internationale im September eine moralische Instanz.

War es nicht so, daß manche, auch solche in der eigenen Partei, wenngleich nur hinter vorgehaltener Hand, bisweilen spotteten, Brandt habe sich in eine Welt der Träume geflüchtet. Dabei war er es, der im Unterschied zu manchen seiner Genossen ganz realistisch und über den Tag hinaus dachte. Man sollte nun abermals darüber nachdenken, daß Willy Brandt in manchen Phasen seiner Biographie außerhalb Deutschlands mehr verehrt worden ist als im eigenen Land. Das sprach für ihn, und es sprach gegen das Spießertum in der deutschen Politik. In Berlin hatte er sich durch seine kämpferische Haltung gegen die Mauerbauer Hochachtung verdient. Die begann zu bröckeln, als er, der niemals ein blindwütiger Antikommunist gewesen ist, der Einsicht folgte, daß die Zweistaatlichkeit für die Menschen wenigstens erträglich gemacht werden müsse. Den nach Bonn übergesiedelten Außenminister und Kanzler konnten viele Berliner bald nicht mehr verstehen. Er dachte weiter als das vom Kalten Krieg geprägte Westberliner Establishment. Weitblick hatte er schon gleich nach der Rückkehr aus Norwegen in der Auseinandersetzung mit den Traditionalisten in der Berliner Sozialdemokratie bewiesen. Nicht anders als Reuter dachte Willy Brandt niemals germanozentrisch. Die Wiedervereinigung konnte er sich nicht als Wiedergeburt des Alten vorstellen. Es war eben keine wohlfeile Rhetorik, wenn er nach dem 13. August die Vision eines von allen Berlinern wieder begehbaren Brandenburger Tores beschwor.

Der Kniefall im Warschauer Ghetto — das war der Mann, der viele durch diese Eingebung beschämte und der durch diese Handlung den Deutschen überall in der Welt etwas erworben hat, was uns in diesen Tagen durch den rechten Pöbel abhanden zu kommen droht: die Glaubwürdigkeit als berechenbarer, friedvoller Partner jener vielen Länder, die Hitler mit Krieg überzogen und verwüstet hatte. Ja, er hat sich wahrscheinlich um dieses Vaterland verdient gemacht. Doch nicht alle seine Landsleute haben sich um diesen großen Friedenspolitiker verdient gemacht. Es ist, bis heute, in diesem Land schwer geblieben, kritischer Patriot und zugleich Weltbürger zu sein. Für Willy Brandt ist das niemals eine politische Rolle gewesen. Es war sein Leben. Klaus Bölling

Als junger Berliner Journalist, gelegentlicher Ghostwriter und Mitstreiter von Brandt in den fünfziger Jahren.

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