Kritik an Gesetzentwurf zu Fesselung: Der Jugendhilfe-Bumerang
Hamburger Professoren wollen ein Bundesgesetz stoppen, das körperliche Zwangsmaßnahmen in Heimen legalisiert. Eigentlich ist es dafür aber fast schon zu spät.
Weitgehend unbeachtet, ohne Debatte wurde im Bundestag am 9. März eine Ergänzung des Paragrafen 1631 b BGB in erster Lesung verabschiedet. Demnach soll künftig die Genehmigung eines Richters nötig sein, wenn einem Kind in einem Krankenhaus oder Heim auf Antrag der Eltern „durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise“ die Freiheit entzogen werden soll.
Das Gesetz soll Freiheitsentzug eindämmen
Das Bundesjustizministerium hatte im Vorweg Experten der Psychiatrie angehört, wo solche Praktiken in medizinischen Ausnahmefällen angewandt werden. Diese hatten hier eine Regelungslücke beklagt. Denn Eltern würden zum Beispiel auch in der Behindertenhilfe oft unter Druck gesetzt, ihre Zustimmung zu solchen Maßnahmen zu geben, hieß es. Durch die Einschaltung des Gerichts erhofft sich die Bundesregierung nun eine Eindämmung solcher Praktiken.
Nur an der Kinder- und Jugendhilfe, deren Dachverbände auch zur Stellungnahme aufgefordert wurden, ging die Sache offenbar vorbei. Lindenberg und sein Kollege Tillmann Lutz wurden erst durch einen Bericht der taz aufmerksam. Beide arbeiten im „Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung“ mit und erstellten in dessen Auftrag eine kritische Stellungnahme, die in Windeseile 150 Unterstützer fand – darunter allein 50 Professoren aus der ganzen Republik und ehemalige Heimkinder.
Befürchtung: Mehr statt weniger Zwangsmaßnahmen
„Die Begründungen der Entwürfe lesen sich zunächst vernünftig“, heißt es in dem Text. So werde zwar das Problem aufgegriffen, dass es bei Kindern, anders als bei Erwachsenen, bisher keine richterliche Genehmigungspflicht gibt, doch durch die rechtliche Regulierung würden solche Maßnahmen „nicht begrenzt, sondern legitimiert“ und auf diese Weise „aus dem Souterrain der Jugendhilfe in die gute Stube der Pädagogik gehoben. Aus einer verschämten Praxis wird eine offene Praxis.“
Michael Lindenberg, Professor
Weiter heißt es: Dass freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe menschenrechtsverletzende Praktiken seien, hätten nicht nur die „schwarze Pädagogik“ der 1950er- und 60er-Jahre, sondern auch die jüngeren Heim-Skandale erwiesen. Dazu zählten „das schmerzhafte und langandauernde Festhalten von jungen Menschen durch mehrere Personen mit entsprechenden Griffen und die Fixierung auf Liegen“. Solche Maßnahmen führten zu Traumatisierungen und könnten kaum von außen kontrolliert werden. Daran werde auch ein Richtervorbehalt „nichts ändern“.
Zu den Unterzeichnern gehören auch zwölf Institutionen, darunter die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen, der größte Fachverband für Erziehungshilfe. Sie kritisieren, dass just die sozialpädagogisch orientierte Jugendhilfe, die „auf solche Maßnahmen ohnehin verzichtet und alternative Praxen anbieten kann“, nicht angehört wurde. „Es gab keine länderübergreifende, interdisziplinäre Fachdebatte.“ Als Vertreter der Forschung fordern sie ein „klares und umfassendes Verbot“ von Fesselungen in der Jugendhilfe.
Wie berichtet, sieht auch die Linke im Bundestag Diskussionsbedarf. Der Abgeordnete Jörn Wunderlich wollte sich für eine Anhörung im Rechtsausschuss stark machen. „Es wird nun am 27. April im Ausschuss ein erweitertes Berichterstattergespräch geben“, sagt Wunderlich zur taz. Dort werden auch Sachverständige gehört, welche, stehe noch nicht fest. Danach könnte das Gesetz im Sommer verabschiedet werden. Michael Lindenberg hat seinen Appell nun an die Vorsitzende des Rechtsausschusses Renate Künast (Grüne) geschickt. „Ich hoffe“, sagt er, „das man unsere Sichtweise ernst nimmt.“ Denkbar ist auch, dass das Gesetz vor der Bundestagswahl im September nicht mehr fertig wird.
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