Kritik „Biller Papers“, Teil 8 und Schluss: Wunderbar, witzig, groß
Maxim Billers Roman „Biografie“ ist 896 Seiten lang, eine Sprachwand schwerer Themen. Die Kritik gibt es deshalb „in progress“.
Teil 8
Ein melancholisches Gefühl breitet sich im Körper aus beim Lesen der letzten der 893 Seiten von Maxim Billers Roman, der vielleicht auch eine Autobiografie in Romanform ist. So viel Zeit hat man verbracht mit den Figuren, dass der nahende Verlust, der kommende Austritt aus der Biller’schen Romanwelt wider Erwarten fast ein bisschen wehtut.
Hat Solomon Karubiner, der Held der Geschichte, nicht ständig genervt mit seiner neurotischen Fixiertheit auf die Regungen seines Verdauungsapparats, seinen Migräneattacken, seiner narzisstischen Selbstbezogenheit, dem ewigen Grübeln darüber, was der strenge Vater und die selbstverliebte Mutter mit dem Scheitern seiner Liebesbeziehungen zu tun haben? Klar hat er genervt, aber Hysteriker sind nun mal interessante Figuren. Ohne Hysterie keine Kunst, keine Geschichte, kein Fortschritt.
Und Solis hyperaktiver Busenfreund, der verzogene Sohn eines jüdischen Gangsters aus Buczacz, der seinen eigenen Vater auf die Transportliste gesetzt hatte, dieser Noah Forlani, der ein Aufmerksamkeitsdefizit entwickelt hat, weil er nie unbeobachtet blieb, der immer neue, aber etwas spät kommende Business-Ideen im Sinn und eine sexuelle Vorliebe für große Frauen hat, die ihn an seine dominanten Kindermädchen erinnerten, hat er nicht auch vor allem genervt? Doch, schon. Aber in seiner Verpeiltheit ist Noah auch ein sympathischer Typ.
Man schlägt „Biografie“ also mit einem Seufzer zu, weil die Charaktere keine Pappkameraden sind. Biller hat seine Figuren satirisch überzeichnet, aber sie sind dennoch plausibel. Enttäuscht, verunsichert, hypochondrisch, neidisch, zynisch und berechnend sind sie, aber auch herzlich, aufrichtig und witzig.
Ist „Biografie“ ein konservativer Roman mit einer aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Vorliebe fürs Psychologische? Nope. Weil das Psychologische immer wieder ins Psychedelische, das nüchtern Beschriebene ins Tagtraumhafte, Irreale, Wunschgetriebene umschlägt.
Die Normalzeit des Romans, an der sich die anderen Zeitebenen orientieren, ist definiert durch jene Phase nach Noah Forlanis vermeintlicher Ermordung durch islamistische Terroristen im Sudan, in der Soli Karubiner wegen des peinlichen Vorfalls in der Elstar-Sauna nach Israel geflüchtet ist, wir sprachen davon. Von dieser Achse aus springt die Erzählung ständig in vergangene Zeitebenen hinein, in die Erinnerungen von Soli und Noah, denn auch das „Ich“ bleibt in dieser kaleidoskopartig aufgefächerten, multisperspektivischen Erzählung nicht Soli vorbehalten. Manchmal ist das erzählende Ich auch das Ich von Noah.
Was als atemloser Stil erscheint, der manche Rezensenten gelangweilt hat, ist das Ergebnis der ästhetischen Entscheidung, das Multitasking, das Hin- und Herspringen zwischen den Kanälen und Gesprächsebenen, das popkulturell informierte Zitieren vergangener Dialoge, das die Kommunikation gegenwärtig lebender Menschen prägt, sich als erzählerische Form anzueignen.
Müssen wir noch über das deutsch-jüdische Verhältnis sprechen, das den historischen Hintergrund bildet, vor dem sich die Figuren abheben? Darüber kann man ganze Romane schreiben, und Biller hat’s gemacht. Nur so viel: Soli Karubiner ist ein Schriftsteller, der die Deutschen ärgern kann, weil sie schon beleidigt sind. Sie kommen nur rational, nicht emotional mit ihrer Vergangenheit klar.
Am Ende ist „Biografie“ ein wunderbarer, witziger, großer Roman auf der Höhe der Zeit. Über eine Freundschaft und einen Vater, der nicht so schlecht ist, wie der Sohn ihn sich gemacht hat. ULRICH GUTMAIR
***
Teil 7
Serien seien wie Romane, hieß es lange. Heute kann man sagen: Romane sind wie Serien. Man will wissen, wie’s weitergeht, man freut sich auf die Abendstunden, und dann liest man viel zu lange. Und wenn man sich mal losgerissen hat und jemanden trifft, der gerade dieselbe Serie liest, ist das wunderbar. Irgendwann heißt es: „Ach, da warst du noch gar nicht? Das wird super, kannst dich drauf freuen, nein, ich verrate nix.“
Womit wir beim Stichwort Verrat sind. Maxim Billers ‚Biografie‘ ist ein Roman über Liebe, Freundschaft und Verrat. Sie bilden die Eckpunkte eines Dreiecks. Von der Liebe war in dieser Kolumne schon mehrmals die Rede.
Die Liebe von Eltern zu ihren Kindern ist ein Topos, den Maxim Billers Protagonisten fast manisch umkreisen, weil sie sich dieser Liebe nicht sicher sind. Immer wieder kehrt Soli Karubiner zu den an ihm nagenden Fragen zurück. Warum war der Vater so zornig, warum schlug er den Sohn, warum hat die Mutter das nicht verhindert, warum schickten sie ihn für ein Jahr zum Großvater nach Moskau?
Schläge lassen sich noch als kaputte Form der Liebe deuten, aber verlassen zu werden ist Verrat. Soli wird noch einmal verlassen, als seine Mutter zum Vater von Solis Schwester Serafina nach Miami zieht. Soli ist schon vierzig, aber als Verrat empfindet er es trotzdem. Die vielen Sexszenen in „Biografie“ sind vor allem dazu da, mehr oder weniger verschlüsselt von Gefühlen des als Verrat empfundenen Liebesentzugs und der daraus resultierenden Ur-Erfahrung der Ohnmacht zu erzählen.
Liebe und Verrat bedingen sich gegenseitig, auch Freundschaft ist ohne Liebe und Verrat nicht denkbar. Ein „Biografie“-Leser sagte kürzlich im Biergarten: „Das Schöne an diesem Roman ist, dass er von Freundschaft handelt. Die große, zärtliche Freundschaft zwischen Soli und Noah ist rührend.“
Freundschaft ist in diesem Roman ein liebevolles Verhältnis. Man könnte fast meinen, dass eine spezifische Definition von Freundschaft formuliert wird: Freunde sind Menschen, die dich nicht verraten. Vielleicht ist das aber auch zu idealistisch und apodiktisch formuliert. Wählen wir lieber den Imperativ: Freunde sind Menschen, die dich nicht verraten sollen.
In der Mitte dieses Buchs öffnet sich zwischen der atemlosen, ständig die Zeitebenen wechselnden Erzählung plötzlich ein Raum. In einer über viele Seiten hinweg entwickelten Szene wird Solis Freund Noah am Pazifikstrand von seinen vermeintlichen Freunden verlassen, die sich sodann in den Tempel eines buddhistischen Gurus begeben und dort ihre Verhältnisse klären, immer wieder auf Kosten des abwesenden Noah, während dieser im selben Moment erkennt, wie er sein Leben ändern muss, um derjenige zu werden, der er sein möchte.
Er muss sich emanzipieren, indem er aufhört, alles immer nur so zu machen, „wie er dachte, dass sie es von ihm wollten“. Sie, das sind die Eltern, das Kindermädchen, sein Freund Soli, seine Frau, aber auch das Weltgewissen und schließlich, „Gott, den es nicht gab“.
Mit dieser Episode korrespondiert eine in Form eines Märchens erzählte Geschichte. Sie handelt davon, wie Solis Vater seinen Großvater verrät, um sich aus dem Gefängnis zu befreien, während er selbst von seiner Frau verraten wird, die ihn mit einem anderen betrügt. All das geschieht im Königreich Rotland.
Trotz ständiger Nazireferenzen arbeitet sich Biller in „Biografie“ daran ab, was der Stalinismus und seine Verfallsformen im 20. Jahrhundert angerichtet haben. Verrat gab es auch in Nazideutschland, aber in der Sowjetunion war er die zentrale Schnittstelle zwischen Staat, Ideologie und Familienleben. Volksschädlinge sind in diesem System nicht die anderen, die vernichtet werden müssen, eben weil sie anders sind. Es sind Väter, Mütter, Kinder.
Im Märchen verrät Mojsche der Grebser seinen Vater, weil er selbst des Verrats angeklagt ist. Er hat ein Gedicht geschrieben, in dem er die Wahrheit über den König von Rotland gesagt hat. ULRICH GUTMAIR
***
Teil 6
„Biografie“, merkwürdiger Titel für einen Roman? Für diesen Roman von Maxim Biller lässt sich kaum ein passenderer finden. Höchstens „Biografien“, aber das wäre zu beliebig postmodern. Ein Teil des Lesevergnügens besteht ja darin, sich zu fragen, wie viel Biller-Biografie in der Lebensgeschichte seines Protagonisten, des Schriftstellers Soli Karubiner, steckt. (Der glaubt, er werde von „Philo-, Anti-, und Originalsemiten“ für „das stakkatohafte, moralische, dionsysische, kurz: intellektuelle Denunzieren einer Welt, die andere Menschen doch nur ein bisschen zu lieben versuchen“, gehasst und bewundert.)
Zu Solis Biografie gehört seine Busenfreundschaft zu Noah Forlani genauso wie das Verhältnis zu Vater Wowa, „dem Schrecklichen“, zu seiner Schwester Serafina und nicht zuletzt zu „Mamascha“. Im Zuge der Erzählung werden aber auch die Biografien verschiedener anderer Figuren, mal detailreich, mal skizzenhaft aus. Die Idee des Biografischen in Gestalt eines psychoanalytischen Familien-, Freund- und Feindschaftsromans prägt die Story auf allen Ebenen.
Nur scheinbar dominieren Väter diese Lebensgeschichten, weil das Wirken der Mütter auch in traditionellen Familien nicht zu unterschätzen ist, was von Biller paradoxerweise gerade dadurch betont wird, dass nur „Mamascha“ namenlos bleibt. Während sich der feministische Leser gerade darüber zu mokieren beginnt, warum Biller seine Frauenfiguren erzählerisch so vernachlässigt, hat der Autor heimlich, still und leise hier und da bereits einige Hinweise fallen gelassen, was es mit den Müttern in diesem jüdischen Post-Holocaust-Kosmos auf sich hat.
Solis Mutter etwa, Schriftstellerin wie der Vater, erscheint Zug um Zug mehr als selbstverliebte Komplizin der väterlichen Ohrfeigen, als „scheinheilige Wowa-Kollaborateurin“. Die Mutter Noahs wiederum, der elterliche Liebe in Form von Bordell-Geheimkonten und Überwachungskameras erfährt, ist selbst Opfer ihres Manns, sie „besaß kein eigenes Konto, keine Kreditkarte, keine EC-Karte, dafür warf er sie manchmal nachts aus dem Bett, wenn sie ihn nervte, und sagte: ‚Das Bett gehört mir. Ich habe es bezahlt.‘ “
Mütter und Töchter sind wie Väter und Söhne Opfer und Täter zugleich. Menschen halt, die damit klarkommen müssen, was sie als Kinder erlebt haben. Das klappt nicht so richtig gut, was dem Leser bekannt vorkommt. Während die literarische Biografie Maxim Billers von der Kritik leicht entnervt aufgenommen wurde, klettert eine andere Autobiografie gerade in den Charts nach oben. Die protestantische Geschichte Benjamin von Stuckrad-Barres handelt von Absturz, Scham, Reue und Wiederauferstehung eines Pastorenkindes. Vielleicht haben die Trolle von der AfD ja doch recht: Deutschland ist ein christliches Land, in dem die Nachricht, dass es keine Erlösung gibt, immer noch nicht gern gehört wird. ULRICH GUTMAIR
***
Teil 5
Maxim Biller wollte einen Roman über das 20. Jahrhundert schreiben, das Zeitalter der Menschheitsverbrechen, der sexuellen Befreiung und der Psychoanalyse. Insofern verwundert es nicht, dass sein Ich-Erzähler Soli Karubiner erstens gerne Nazivergleiche bei der Hand hat, wenn er etwas beschreiben will, zweitens offenherzig über seine sexuellen Fantasien berichtet, zu denen er onaniert, und drittens ein Freudianisch gesprochen perverses, also genital gestörtes Verhältnis zum Sex hat.
Oritele, die „Königin von Saba und Nord-Tel Aviv“, liebt er erst, „als sie weg war“. Danach erinnert er sich an ihre „schönen, ein bisschen zu kurzen, zu stämmigen Beine“. Was fällt ihm weiter ein? „Ein kleiner Arsch, der trotzdem voller Überraschungen war. Ein ewiger blauer Fleck auf dem Rücken, genau dort, wo sie früher, als sie noch in der Gehenna das siedende Öl für die anderen umrührte, einen Schwanz hatte. Und eine behaarte Stelle auf der linken Schläfe, der erste biologische Atavismus, der mir im Leben untergekommen war.“
Soli leckt Oritele gern die „Pflaume“. Oritele wiederum liebt es, Soli erst ein, dann zwei Finger in den Hintern zu schieben – und das soll wehtun: „Ich weinte, weil Oriteles Finger sich durch mein blitzblankes Loch tief in meine Seele bohrte.“ Sex ist in Billers „Biografie“ unter anderem ein Vorgang, durch den die kindliche Erfahrung von Ohnmacht durchgearbeitet werden. Er ist aber auch ein Ausdruck kollektiver psychischer Prägung, die weiter zurückreicht als eine Generation.
„Die irakischen Juden – in Babylon seit Nebukadnezar II. – waren so wenig fein, kultiviert und menschlich wie jeder Nomade, Reiterkrieger, Araber, mit dem sie in dreitausend Jahren einmal ein Geschäft gemacht hatten. Ihre Kultiviertheit war Arroganz, Misstrauen. Sie lauerten immer nur auf die richtige Chance, den anderen zu besiegen. Und wenn es der eigene Ehemann war.“ Oritele besiegt Soli mit ihrem lubrifizierten Finger.
In diversen Verrissen und darauf folgenden Verteidigungen dieses Romans ging es beinahe obsessiv um seine Fülle sexueller Handlungen und Fantasien. Eine der dabei gestellten Fragen lautete: Wozu das Ganze? Wozu die vielen (womöglich gar noch jiddischen!) Synonyme für das Pitschkale und den Dudek? Warum, warum wird da so viel onaniert und gevögelt? Und warum geht es da so selten um Nähe und Liebe, aber dafür oft um sadomasochistisch gefärbte Projektionen? Die Frage ist richtig gestellt, die allgemeine Antwort darauf bereits oben zu finden.
Richtig ist auch die Kritik, dass es bei der Ausarbeitung der psychologischen Tiefe der Frauenfiguren noch viel Luft nach oben gegeben hätte, wie der Sportreporter sagt.
Einem Autor muss man aber zugestehen, dass er einen bestimmten Aspekt seiner Geschichte nicht weiter verfolgt. Weil er davon keine Ahnung hat. Weil es ihn nicht interessiert. Oder weil es ihm für das, was er erzählen will, schlicht nicht wichtig erscheint. Meine These zugunsten des Autors ist diese: Dieser Roman handelt von Männern, die nicht erwachsen werden können. Denn die Billerschen Hauptfiguren, die Freunde Soli und Noah, haben einen Schaden, den ihre Eltern verursacht haben. Dieser Schaden ist nicht nur biografisch wirksam, sondern steht womöglich beispielhaft historisch für das Problem von Männlichkeit bei vielen, die ins 20. Jahrhundert hinein geboren wurden.
Psychoanalytisch betrachtet ist der schlagende Vater der impotente Vater. Seine Autorität wird durch Gewalt nicht bestätigt, sondern beschädigt. Soli erfährt die Gewalt direkt, Noah indirekt, weil sein Vater die gewalttätigen Kinderfrauen gewähren lässt.
Soli und Noah sind auch als Männer nie so recht ihrer Pubertät entwachsen. Sie sind jüdische Jungs geblieben, nie ganz Männer geworden, weil ihre Väter trotz aller Härte schwach sind. Dieser Mangel wird zwar am deutlichsten, wenn sie Sex haben, ist aber auch sonst nur schwer zu übersehen. Noch relativ am Anfang dieses Buchs, nach gut 200 Seiten, stellt sich also die Frage: Wann tritt die Mutter auf? ULRICH GUTMAIR
***
Teil 4
„Maxim Biller kann schreiben. Mein Gott, und wie“, hat Daniel Kehlmann für seinen Blurb auf der Rückseite gedichtet. Klingt wie aus einem Heinz-Rühmann-Film, stimmt aber. Biller kann schreiben, und zwar ganze Sätze, von denen jeder selber eine kleine Geschichte erzählt. Davon gibt es in diesem Buch also sehr viele, wenn man bedenkt, dass es 900 Seiten hat.
Ich habe die Hundertermarke eben erreicht, und ich weiß: Ich werde bis zum Ende weiterlesen. Dieser Roman macht Spaß, ist intelligent, kennt keinen Gott und hat vor nichts Angst. Er bedient sich sehr künstlicher, drehbuchartig zugespitzter Figuren, die aber trotzdem nachvollziehbar für genauso denkbare Menschen stehen, mit unklaren Beweggründen, unkontrollierbaren Gefühlen, und Sehnsüchten, die sie selbst nicht kennen: Psychologie. So was gibt es in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht so oft.
„Biografie“ handelt vom Millionärssohn Noah Forlani und dem Schriftsteller Soli Karubiner, der uns als Ich-Erzähler mitnimmt auf die Reise dieser beiden Männer im besten, also schlimmsten Alter. Sie müssen sich endgültig von ihrer libidinös befeuerten Jugend verabschieden, am Horizont lauert der Tod und also das Nichts.
Wo wollen sie hin? Nach Buczacz, das heute in der Ukraine liegt und bei Biller als das Jerusalem des Ostens erscheint. „Schloimel Forlani, der Oberganef, war aus Buczacz. Mein Großvater, der Vater von Wowa, dem Familien-Stalin, kam aus Buczacz. Agnon kam aus Buczacz, Simon Wiesenthal war aus Buczacz. Wir alle waren Buczaczer, in unseren Köpfen ratterten die Räder noch schneller als bei anderen Juden, aber wir konnten auch ganz gut mit dem Schwanz denken. Waren wir am Ende alle miteinander verwandt? Noah und ich bestimmt. Wir liebten uns mehr als Brüder, und ich fand, wir sollten einmal zusammen nach Buczacz fahren, das würde Klarheit in unsere Beziehung bringen.“
Noah Forlani wird geliebt, weswegen er sein ererbtes Geld hemmungslos in unsinnigen Projekten verjubelt, während sein Freund Soli Karubiner, wie Noah meint, von seinem ehemaligen tschechischen Parteischriftsteller- und Staatssicherheitsvater nicht geliebt wird. Im Gegensatz zu Noah weiß Soli aber, was er will und was er kann. Er weiß, dass in ihm soundso viele Romane stecken, unter anderem ein so dickes Ding, wie der Leser es in der Hand hält. Aber das hilft nicht über die fundamentale philosophische Unbehaustheit hinweg, die ihn nach einer peinlichen Affäre in der Dusche der Elstar-Sauna befällt.
Fasziniert und angeregt von einem „unglaublichen weißen Arsch, wie ich ihn hier nie zuvor gesehen hatte“, fasst sich der Erzähler zwischen die Beine, doch da dreht sich die bewunderte Madame um. Die Polizei kommt, ein Erpresser macht eine Falschaussage zugunsten des Schriftstellers. Der Mann hat einen Roman in der Schublade, den er mit Hilfe des exhibitionistischen Autors veröffentlicht sehen will.
Diese beschämende, peinliche und absurde Begebenheit ist für den schadenfrohen Leser lustig, weil man sich gut in sie hineinversetzen kann. Auch wenn Biller jeden Anflug eines metaphysischen Gedankens von sich weist, ist dieser komische Moment im Roman doch Anlass, sich grundsätzliche Gedanken über das Leben zu machen: „Was spürte ich, wenn ich an die Elstar-Sauna dachte? Nichts Metphysisches, eher eine kindliche Beklemmung, eine Art theatralische Todesangst. Und plötzlich hatte ich auch noch andere Fragen an den Psychologischen Weltkongress: Werden wir von unserer Umgebung zu dem gemacht, was wir vorher nicht waren? Bilden wir uns den Horror niemals bloß ein? Leben wir in einer Welt, die wir überhaupt nicht kennen? Dreimal ja, lautete meine Antwort.“
Biller kann nicht nur schreiben, er hat auch Humor. Schreiben können ohne Humor, ein warmes Herz und eine traurige Seele, das braucht ja nun auch keiner, und ohne Humor ließe sich das dreifache Ja auch nicht aushalten. Bin gespannt, wie es weitergeht.
ULRICH GUTMAIR, Dirk Knipphals ist verhindert.
***
Teil 3
Ich lese das Buch langsam. Ich bin jetzt am Ende des ersten Drittels von Maxim Billers Roman „Biografie“, dem Punkt, an dem, kann ich mir denken, die Kollegen Literaturkritiker, die schnell auf das Erscheinen reagieren mussten, sich gefragt haben: „Alles schön und gut, aber was macht er da eigentlich, was soll das Ganze?“
Es lässt sich an diesem Punkt viel sagen über die Übersexualisierung, über die Neigung zu Pointen und Anekdoten, die Sprache (manchmal fühle ich mich an die knödeligen Sätze von Günter Grass erinnert und muss lachen, mit Grass würde Maxim Biller nicht gern in Verbindung gebracht werden). Aber, was zumindest an dieser Stelle schwierig ist, ist, das Projekt in irgendeiner Weise auf einen Punkt zu bringen, eine Vorstellung davon zu haben, was das Buch der Welt hinzufügt. Genau das braucht man als LeserIn bei diesen dicken, komplizierten Büchern aber irgendwann.
Es muss ja auch gar nichts Kompliziertes sein. Bei Knausgård ist klar: Hier zieht sich jemand schreibend so nackt aus, wie er kann, um sich selbst auf die Spur zu kommen. Bei William T. Vollmann ist klar: Hier will jemand den Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs irgendwie zu fassen versuchen. Und Biller? Selbstverständlich ist vom Vorwissen über diesen Autor klar, dass im Hintergrund die Themen rund um den Holocaust stehen, und man ahnt, dass es da irgendwo ein Gravitationszentrum geben mag. Vom Text selbst aus ist das bis zum Ende des ersten Drittels nicht klar. Maxim Biller erzählt Anekdoten aus der Kreativ-, vor allem der Filmszene, macht sich über den Schauspieler Jeff Goldblum und anhand von Darfur-Episoden über Weltrettungsfantasien lustig; groovt sich immer wieder in die Schilderung einer offenbar noch unverarbeiteten Kindheit zwischen Prag und der Hamburger Hartungstraße 12 ein, in der Lügen und Ohrfeigen eine große Rolle spielen.
Helge Malchow, der Verleger Maxim Billers, hat in seiner Rede bei der Buchpremiere angekündigt, dass ab Seite 750, wenn die beiden Freunde Soli und Noah in die Ukraine reisen und ihnen die Geschichte der dortigen Pogrome erzählt wird, sich die gesamte Romanwelt eröffnen würde. Von da aus solle man das ganze Buch noch einmal lesen: „Hier zeigt sich“, so Malchow, „die durchgeknallte Romanwelt ist die Antwort auf eine durchgeknallte Welt.“
Am Ende des ersten Drittels hat man verstanden, wie durchgeknallt das ist. Jetzt müsste aber noch etwas kommen, das diese Durchgeknalltheit als Schreibprojekt begreifbar macht. Mal sehen. Nächste Woche mehr. DIRK KNIPPHALS
***
Teil 2
Der Satz „Jetzt, dachte ich, sollte ich sicherheitshalber lachen“ fällt, als Solomon, genannt „Soli“ Karubiner, die Zentralfigur, den Inhalt eines Familienromans erzählt bekommt, der vom Widerstand einer nichtjüdischen deutschen Familie gegen die Nazis handelt. Dieser Soli sitzt dem Verfasser des noch unveröffentlichten Romans, Claus, in einem Restaurant in Berlin gegenüber. Claus will ihn erpressen, das Manuskript an einen Verlag zu empfehlen; und er kann ihn erpressen, weil Soli in einer öffentlichen Sauna onaniert hat und eine Frau sich dadurch belästigt fühlte. Wir sind da auf Seite 128 von Maxim Billers 900-seitigem Roman „Biografie“.
Die Frage, ob man „sicherheitshalber“ lacht, hat man sich beim Lesen bis dahin schon einige Mal gestellt. Es gibt viele komische Details. So trägt der besagte Familienroman den Titel „Die Litze der Hammerbachs“, und sofort fragt sich Soli Karubiner (wie der Leser), was, verdammt noch mal, eine Litze ist.
Außerdem schichtet Max Biller oft die Ebenen waghalsig übereinander. Mitten in einem Gespräch, das die Frage berührt, ob die Juden den Opferstatus monopolisieren – „Sie und die anderen Judentypen. Ihr denkt, die Erinnerung gehorcht nur euch“ –, fällt diesem Claus zum Beispiel auf, in einem Promirestaurant zu sitzen: „Das war Tom Cruise. Ich glaub’s nicht, das war Tom Cruise!“ Das ist nicht die erste Stelle, an der man sich ernsthaft fragt, ob man das Buch nicht einfach wie ein Pulp-Fiction-Ding auf seine absurden Stellen schnell weglesen sollte.
Es gibt wirklich hanebüchen ausgedachte Plot Points. Die Dreharbeiten zu einem very independent Film über die Ermordung der Goebbels-Kinder spielt eine Rolle, eine Geschichte um betrogene Betrüger und eine geschmuggelte Buddha-Statue und immer wieder Sex, der in vielen Spielarten eher angesprochen als tatsächlich geschildert wird, und zwar so obsessiv, dass man beim Lesen gleich denkt: Aha, hier soll ich hinter der heftigen Oberfläche die Verzweiflung und Leere dahinter spüren.
Sex, das ist in diesem Roman bislang hauptsächlich Kampf, und zwar gar nicht mit und gegen einen Partner, sondern um und mit der eigenen Empfindung. Dass sie Narzissten sind, wissen sowieso alle Figuren in diesem Buch selbst, und in puncto Beziehungsunfähigkeit wollen sie sich von niemandem etwas vormachen lassen.
Im zwölften Kapitel gibt es auch dazu einen passenden Satz. Da ist von der „menschlichen Seele“ die Rede, „die lieber schmerzt und Schmerzen bereitet, als sich zu langweilen“. Das ist zwar auf den israelisch-palästinensischen Konflikt bezogen, kann man aber ohne große Probleme auf alle Beziehungen in dem Buch anwenden.
Gleichzeitig kann ich dieses zwölfte Kapitel aber für Leute, die sich fragen, ob dieses Buch etwas für sie ist, als Anlesetipp empfehlen (ab Seite 160). In ihm erscheinen die Ebenen nicht nur jongleurhaft übereinandergeschichtet, sondern tatsächlich aufeinander bezogen. Soli betritt die Prager Wohnung seiner Kindheit. Seine Halbschwester kocht für ihn. Sie unterhalten sich darüber, wie es für sie war, zu erfahren, dass ihr sozialer Vater nicht ihr richtiger Vater war. Soli sieht sich selbst in Werbeplakaten für seine Bücher („Ihr wollt nur unsere goldenen Eier“, „Post aus dem Holocaust“) gespiegelt, die seine Mutter im Flur aufgehängt hat. Erinnerungen an einen Ausflug nach Jerusalem mit seinem Jugendfreund Noah spielen hinein, in dem sie an der Klagemauer standen und kein großes Gefühl in sich entdecken konnten.
Zugleich nimmt hier die Erzählweise etwas Achtsames an. An vielen Stellen bis dahin bleibt die Tragikomik Behauptung. Aber in diesem zwölften Kapitel lässt sich tatsächlich spüren, was für eine Überforderung es ist, als Nachgeborener dieses schreckliche 20. Jahrhundert auf dem Rücken zu haben. Mal weitersehen. DIRK KNIPPHALS
***
Teil 1
Dickes Ich-zeig's-euch-jetzt-mal-Buch. Schwerste Themen wie Holocaust und Sex. Ich habe Maxim Billers neuen Roman „Biografie“ (Kiepenheuer & Witsch, 896 Seiten, 29,99 Euro) aufgeschlagen, wie man eine Aufgabe angeht, um die man sich nicht drücken kann: mit einem Seufzer. Und? Mit dem Lesen anzufangen hat zu meiner eigenen Überraschung Spaß gebracht. Von da her entstand die Idee: die Sache leicht anzugehen, soweit möglich, und einen wöchentlichen Lektürebericht abzuliefern. Im besten Fall wird eine Besprechung in progress draus, mal sehen. Dies ist die erste Folge.
Woraus ergab sich der Spaß am Anfang? Gar nicht so sehr aus den einzelnen Pointen und Anstreichsätzen, deren waghalsigen Witz auch die skeptischen Kritiker loben. Sondern eher aus der Überforderung, die sich aus ihrer Überfülle ergibt. Mit Namen wie Tal „The Selfhater“ Shmelnyk wird so um sich geworfen wie mit Tarantino-Anspielungen, SM-Kalauern und Bonmots (“Dass für ihn Gewalt plus Ständer gleich Liebe war, begriff er erst auf Sardinien“).
Und allmählich stellt sich die Situation scharf, die geschildert wird. Eine Silvesterparty 2005 in Berlin, oversexte Figuren aus dem Kreativmilieu versuchen, sich gegenseitig zu beeindrucken.
Mit einer zunächst unlesbar wirkenden Sprachwand konfrontiert zu sein, aus der sich Figuren und Handlungen herausschälen, kann (Pynchon, David Foster Wallace) ein lustvoller Vorgang sein. Und spätestens wenn das Stichwort ADS fällt – die Figuren werfen sich vor, am Aufmerksamkeitsdefizitsyndromzu leiden – gönnt einem der Roman auch einen Aha-Effekt. Diese Charakterisierung trifft auch auf die Erzählweise zu: Prosa auf ADS, die Sätze können einfach nicht ruhig sitzen. Das ist bei Figuren, die gleichzeitig ungeheuer nach Aufmerksamkeit strampeln, von einigem Witz. Mal sehen, wie es weitergeht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene