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Krieg in der UkraineÜberleben im Hausflur

Die Hauptstadt Kyjiw ist auch in der Nacht zu Freitag wieder Ziel russischer Angriffe mit Drohnen und Raketen geworden. Eine Person wird getötet.

Eine zerstörte Wohnung in Kyjiw nach den Angriffen in der Nacht zu Freitag Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa
Bernhard Clasen

Aus Kyjiw

Bernhard Clasen

Kurz nach Mitternacht klopft Ihor, der Zimmernachbar, nervös an die Tür. „Wir sollten in den Schutzraum gehen“, sagt er. „Heute Nacht wird es richtig laut werden“. Gewöhnlich geht Ihor bei Luftalarm nicht aus dem Haus. Dann legt er sich mit seiner Matratze in den Gang seiner geräumigen Wohnung und glaubt sich vor Drohnen geschützt.

Drohnen würden nur Balkons und Aussenwände beschädigen, ist er sich sicher, im Gang könne man überleben. Auch schütze der Gang vor der gefährlichen Druckwelle von Explosionen. Doch diese Nacht, berichtet er, hätten ukrainische Telegram-Kanäle einen sogenannten kombinierten Angriff angekündigt. Das bedeute, die Stadt werde von Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen angegriffen. Und deswegen wolle er nicht in seiner Wohnung bleiben.

Also zieht er sich an, nimmt seinen bereits gepackten Rucksack in die Hand und eine Matratze auf den Kopf. Im Rucksack ist alles, was man für eine Nacht braucht: Geld, Ausweis, Telefon und Powerbank. So verlässt er das Haus in Richtung Bunker.

Der Bunker ist der Keller eines Nachbarhauses. Hier ist es warm, und als die Tür aufgeht, bellt ein Hund Ihor an. Der Hund ist wohl nervöser als die Menschen, die im Keller ausharren. Alle im Keller hängen an ihren Smartphones, lesen Telegramkanäle, vorwiegend den von Bürgermeister Vitali Klitschko. kommen doch auf diesem die aktuellen Nachrichten immer am schnellsten.

Kein Empfang

Irgendwann nach vier Uhr morgens ertönt eine Stimme, die Gefahr sei vorbei, es mögen bitte alle nach Hause gehen. Jemand protestiert: „Der Luftalarm ist doch noch gar nicht vorrüber.“ „Die Gefahr ist vorbei“, fährt der Mann die Frau an. „Auf den Telegram-Kanälen wird gemeldet, dass die Gefahr für Kyjiw vorbei sei.

Ihor will trotzdem nicht nach Hause. Er traut der Sache nicht und glaubt, dass es in Kürze zu einem weiteren Angriff kommen werde. „Kommen Sie mit, wir gehen in eine Tiefgarage.“ fordert er seinen Nachbarn auf. Auch in der Tiefgarage ist es warm. Doch das Mobilfunknetz hat keinen Empfang.

„Da sehen Sie mal, wie dick hier die Betondecke ist“ sagt Ihor und gibt seinem Nachbarn, der zwischen zwei Autos auf einer Isomatte in seinem Daunenschlafsack liegt, das Passwort des WLAN. „Um 5 Uhr ist die Ausgangssperre beendet und dann könnte es hier ungemütlich werden, wenn die ersten Autos losfahren.“ sagt er noch, bevor er einschläft.

Insgesamt, so die Behörden der Stadt Kyjiw, seien bei dem nächtlichen Angriff vier Personen getötet sowie 25 Personen verletzt worden, darunter ein zehnjähriges Kind und eine schwangere Frau. Die Rettungsdienste meldeten zudem die Bergung von über 40 Menschen aus beschädigten oder brennenden Gebäuden. Auch in anderen Regionen, wie Sumy, wurden Explosionen gemeldet.

Die Ukraine griff russische Ortschaften mit Drohnen an. Der Gouverneur des Gebietes Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, berichtete von Angriffen auf mehrere Dörfer des Gebietes Belgorod, ein Zivilist sei verletzt worden, er habe sich Verbrennungen im Brustbereich und mehrere Splitterverletzungen im Gesicht zugezogen.

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