Krieg in Nahost: Kommen die Hamas-Geiseln bald frei?
Laut Katar steht eine Einigung zwischen den radikalen Islamisten und Israels Regierung kurz bevor. Doch Netanjahu dementiert.
Als sie ankommen, haben die Neuigkeiten schon die Runde gemacht. Ein Deal ist nah, so verkündete die US-amerikanische Tageszeitung Washington Post am Samstag. 50 oder mehr Geiseln, die die radikalislamische und militante Hamas vor sechs Wochen in den Gazastreifen verschleppt hatte, sollen, so der Bericht, möglicherweise bald freigelassen werden.
Doch die Nachricht wird in Israel skeptisch aufgenommen. „Wir haben viele ähnliche Ankündigungen von bevorstehenden Deals in den letzten Wochen gehört“, sagt Gili Roman, der Bruder der entführten Yarden Roman, am Telefon gegenüber der taz: „Doch bislang sind unsere Familienangehörigen nicht zurück.“
Seit Wochen laufen in Doha im Golfstaat Katar die Verhandlungen, an denen die USA, Israel und katarische Mediatoren stellvertretend für die Hamas teilnehmen. Möglicherweise stehen sie nun kurz vor einem Durchbruch. Es hänge jetzt nur noch an Fragen „logistischer und praktischer“ Natur, bestätigte der katarische Premierminister Mohammed Bin Abdulrahman al-Thani am Sonntag bei einer Pressekonferenz mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Doha.
50 Geiseln oder mehr
Die Details des Deals sollen laut Washington Post auf sechs Seiten festgehalten sein. Die Kernpunkte: Alle Konfliktparteien stellen die Kampfhandlungen für mindestens fünf Tage ein. Mehr humanitäre Hilfe einschließlich Treibstoff solle aus Ägypten in die belagerte Enklave gelangen. Dafür sollen einige der Geiseln in kleineren Gruppen alle 24 Stunden freigelassen werden. Es ist nicht klar, wie viele der 239 Geiseln im Rahmen der Vereinbarung freigelassen werden sollen. Zuletzt war von 50 Geiseln oder mehr die Rede, wahrscheinlich alle Kinder und deren Mütter.
Doch die Situation ist unübersichtlich. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wies die Medienberichte am Wochenende als „falsch“ zurück. Es gebe noch keine Vereinbarung über die Freilassung von Geiseln. Wo derzeit der Ball liegt, ob auf israelischer Seite oder auf der Seite der Hamas, weiß kaum jemand – eine Situation, die nicht nur, aber vor allem für die Angehörigen der Geiseln nur schwer zu ertragen ist.
Überhaupt sind die Angehörigen der Geiseln in einer denkbar komplizierten Situation: Sie müssen sich damit arrangieren, dass sie mit ihrem Anliegen maßgeblich von der radikalislamischen und militanten Hamas abhängig sind, die ihre Liebsten am 7. Oktober nach Gaza verschleppt hat. Doch vertreten werden ihre Interessen von einer Regierung unter Führung von Netanjahu, dem die allerwenigsten im Land noch trauen. Nicht mal 4 Prozent der Israelis geben in einer Umfrage an, ihm als Quelle für Informationen über den Gazakrieg zu trauen – selbst im rechten Lager sind es nur 6 Prozent.
Uneinigkeit herrscht sowohl unter Politiker*innen als auch in der israelischen Öffentlichkeit darüber, zu welchen Bedingungen Israel einen Deal akzeptieren sollte. Die einen setzen auf militärischen Druck auf die Hamas, sie sprechen sich gegen einen Teilaustausch aus und bestehen auf einer Freilassung sämtlicher Geiseln. Andere wollen die retten, die jetzt möglicherweise unmittelbar gerettet werden könnten. Eine der Forderungen von manchen Familienangehörigen der Entführten lautet: Keine humanitäre Hilfe, bevor die Geiseln frei sind.
Maoz Inon wählt einen anderen Weg. Seine Eltern wurden am 7. Oktober beim Überfall der Hamas auf ihr Dorf Netiv Ha’asara ermordet. Am Samstagabend steht er gemeinsam mit einigen hundert arabischen und jüdischen Israelis in Tel Aviv auf einer Friedensdemonstration und fordert ein Ende der Kämpfe: „Der Krieg muss jetzt aufhören“, ruft er. Er helfe nur der Hamas und Netanjahu, der ihn politisch nutzen wolle. „Wir fordern Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität, für Israelis und Palästinenser.“
Auch der arabische Knesset-Abgeordnete Youssef Atauna nimmt teil: „Sie sagen: Wer gegen Krieg ist, ist für Terror“, ruft er den Gegendemonstranten zu, die seine Rede durch laute Technomusik stören. „Wir sind hier, um zu sagen: Wir sind für den Frieden. Es gibt keinen anderen Weg. Die Logik ‚Blut für Blut, Auge um Auge‘ muss enden.“
Internationaler Druck auf Israel steigt
Stimmen wie die von Inon und Atauna sind derzeit rar in Israel. Die Veranstaltung wurde von fast ebenso vielen Gegendemonstranten belagert und von Dutzenden Polizisten gesichert. Ähnliche Proteste waren in den vergangenen Wochen mitunter ganz verboten worden, besonders in mehrheitlich arabischen Ortschaften.
Doch dass der internationale Druck auf Israel angesichts der humanitären Folgen des Kriegs in Gaza steigt, bestätigte vergangene Woche auch Israels Außenminister Eli Cohen. Mehrere Amtskollegen hätten ihm gegenüber bereits das Thema eines Waffenstillstands angesprochen. Auf die Frage, wie lange das „diplomatische Fenster“ für die Operationen der Armee in Gaza noch offen stehe, antwortete er: „Zwei oder drei Wochen“. Israel werde aber „nicht stoppen, bevor die Geiseln nicht frei seien“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?