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Kreuzbergvariationen

Sei gegrüßt, du etwas verunglückte, schöne postmoderne Patchworkbiografie: Christoph Bauers schlendernder Roman „Jetzt stillen wir unseren Hunger“

Das Leben am Rand des Geschehens kann viele Vorzüge haben. Nicht so richtig involviert in Produktionsprozesse und Arbeitszusammenhänge, hat man aus sicherer Distanz viel Zeit, nachzudenken, soziale Kontakte zu pflegen und sich jede Menge Gutes zu tun. Der Blick auf die Welt gerät in den richtigen, zynischen Winkel: Nirgendwo kommt man leichter zum Entschluss, das System nur noch ficken zu wollen.

Alles andere als ein Zufall ist es also, dass Christoph Bauer seinen ersten Roman im Berliner Stadtteil Kreuzberg spielen lässt. Der Held von „Jetzt stillen wir unseren Hunger“, Tom Weinreich, fährt Taxi, um sich südwesteuropäische Feinkost und nordportugiesischen Rotwein leisten zu können. Dabei ist er angelegt, als wolle er Pierre Bourdieu verbessern, als habe der bei seinen „feinen Unterschieden“ den kulturellen Geschmack einer wichtigen sozialen Gruppe vergessen – nämlich den der linksalternativen, etwas in die Jahre gekommenen Low-Budget-Nischenexistenzen, die man vielleicht ab und zu in jeder Großstadt findet, nirgends aber öfter als in Berlin, an keinem Ort häufiger als in Kreuzberg.

Tom Weinreich ist eine Genusswurzel. Abgesehen von seiner Feinkost sind es vor allem die kostenlosen Dinge im Leben, die ihm Spaß bereiten. Von Zeit zu Zeit hat er die Gelegenheit, eine begehrte Frau zu „vernaschen“, und in den immer länger werdenden Wartepausen dazwischen unternimmt er einen täglichen zweistündigen Spaziergang. Nicht, dass er sich der modernen Großstadt und ihrer Reizüberflutung aussetzen würde, nein. Tom Weinreich schätzt es, sich kein bisschen zielgerichtet an den „schwierigsten und verzwicktesten Gedanken“ abzuarbeiten: Schließlich hat auch er mal an der Uni zu tun gehabt und versucht, das Welträtsel mittels einer Bewusstseinsformel zu lösen, hört am liebsten die Goldberg-Variationen und liebt Picasso – sei gegrüßt, du etwas verunglückte, schöne postmoderne Patchworkbiografie! Peinlich berührt ist man schon fast, wie dieser Superheld, diese prima Parodie des Kreuzbergers an sich, auf seinem pubertären Schabernack herumreitet, während er spazieren geht. Manchmal nimmt das doch ganz schön manierierte Formen an: einen Pfarrer wegen Kirchenglockenspiels am Sonntag mit ausgeklügelten Drohbriefen zu behelligen zum Beispiel; oder Schwäne zu „foppen“. Was einem halt so einfällt, wenn man sich mit sich selbst amüsiert – darauf muss man erst mal kommen.

Schwer zu sagen, wie es Christoph Bauer schafft, diesen verbohrten, kulturkonservativen und alternativspießigen Junggesellen dann auch irgendwie noch sympathisch hinzubiegen. Vielleicht liegt es am Kontext: Tom Weinreich ist sicher nicht die schlechteste Alternative, denkt man an die hippen und popkulturell sozialisierten Romanfiguren, die zurzeit mit ihrer neuen deutschen Unterhaltsamkeit die Bücher verstopfen. Vielleicht liegt es am schönen Kreuzberg, das so wohl tut bei all der Hysterie um die neue, glitzernde Hauptstadt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Tom Weinreich irgendetwas aus dem Ruder läuft an diesem einen Tag, der im Roman beschrieben ist. Er lernt auf seinem Gang eine Frau kennen, Mascha, in die er sich sofort verliebt. Man ist schon wieder fast peinlich berührt, wie er gleich Besitz ergreift von ihr, infantil und altbacken zugleich, genau wie auch Mascha blitzschnell Macht über ihn gewinnt. Sofort tischt er ihr seine Geschichten auf, sie geht darauf ein, er macht sich Sorgen um sie, schleppt sie zu sich nach Hause und füttert sie mit seiner Feinkost. „Meine Liebe“ sagt er zu ihr, sie lässt es sich gern gefallen.

Es beginnt ein langer, harmonischer Abend voll penetranter Gemütlich- und Geborgenheit, mit „guten“ Gesprächen, die nicht selten in Küchenpsychologie und Alltagsphilosophie abdriften und vor lauter ungefährlichem Halbwissen nur so strotzen. Nach und nach, in schleppenden Dialogen, die mit liturgischer Kraft, in endlosen Konjunktivsätzen den Lebensüberdruss und übergroßen Ekel Maschas vor ihrer Vergangenheit gekonnt spiegeln, langsam kommt raus, dass Mascha lange Jahre in eine unglückliche Liebe verstrickt war. Mit einem anderen als Ehemann hat sie wie in Watte gelebt, eigentlich ganz ähnlich blockiert wie Weinreich. Mehr und mehr ähnelt das Leben Maschas das ihrer Namensvetterin aus Tschechows Stück „Die Möwe“. Immer gespannter wird die Atmosphäre, als sie gesteht, sich diese große Liebe, das unerreichbare Objekt ihrer Begierde, den Dramaturgen Karl, ihren Wunschfantasien entsprechend selbst gestrickt zu haben. Die Macht der Fantasie, der Verherrlichung ist eben, wenn man sich so richtig in etwas verrannt hat, stärker als die Wirklichkeit; das muss Mascha feststellen, nachdem Karl auf sie reagiert hat, sich von ihr ins Bockshorn hat jagen lassen und sich damit zerstört hat. Nachdem sie ihre Lebensbeichte abgeladen hat, ist Mascha erleichtert, entspannt und wild entschlossen, sich zu verlieben. Sie dichtet Weinreich an, ein Dichter zu sein.

SUSANNE MESSMER

Christoph Bauer: „Jetzt stillen wir unseren Hunger“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001, 288 Seiten, 39,90 DM

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