: Kreise um ein leeres Zentrum
Was dann doch geschieht, wenn eigentlich gar nichts geschieht: Denis Johnson liefert wieder perfekte Rollenprosa – „Der Name der Welt“
VON FRANK SCHÄFER
Denis Johnsons Novelle „Train Dreams“ war wunderbar; der kurze, gerade auf Deutsch erschienene Roman „Der Name der Welt“ lässt sich als eine komplementäre, in die Jetztzeit transformierte Variante lesen. Noch einmal verliert ein Mann Frau und Tochter durch einen Unfall, zieht sich aus der Gesellschaft zurück – und damit verändert sich auch auf fundamentale Weise seine Wahrnehmung der Welt.
Während Johnson das Schicksal des etwas tumben Holzfällers Robert Grainier, der in der Novelle nach dem Verlust an schrecklichen Visionen leidet, in einer wunderbar anachronistischen Folkdiktion referiert, lässt er nun dessen zeitgenössischen Leidensgefährten Michael Reed selbst sprechen. Der ist ein promovierter Historiker und ehemaliger Redenschreiber; entsprechend nüchtern und abgeklärt ständig sein Verhalten, seine Beobachtungen wägend und analysierend, berichtet er von den letzten Wochen und Monaten seiner Trauerstarre. Johnson schreibt Rollenprosa in aller Konsequenz, deshalb ist sein Stil hier längst nicht so avanciert und amplifiziert, wie man das sonst von ihm kennt – nicht zuletzt etwa von „Jesus’ Sohn“, dieser mit psychedelischen Halluzinationen versetzten Storysammlung um den Drogenschlucker Fuckhead, die ihn berühmt gemacht hat.
Zu allem Überfluss passiert fast nichts in diesem Buch. Reed verdingt sich als Geschichtsdozent an einer unbedeutenden Uni im Mittelwesten und ergeht sich in leeren Ritualen. Hier ein Essen mit den langweiligen Kollegen, dort ein Kaffeetrinken, und die Lehre selbst ist auch nicht mehr als Beschäftigungstherapie – endlich spricht es mal einer aus: „Ich veranstaltete kleine Seminare, forderte kluge, aber orientierungsbedürftige Studenten zur Lektüre von Büchern auf, die ich schon kannte, und hörte dann zu, wie sie ihre Referate vor dem Rest der Schar zur Diskussion stellten. Mit anderen Worten, ich tat gar nichts.“
Dennoch folgt man dem alternden Reed mit Aufmerksamkeit durch die Ereignislosigkeit seines Daseins, weil er mit einigem Scharfsinn und interpretatorischer Verve sich selbst in all die kleinen Alltagsbegebenheiten hineinliest, die dann doch immer passieren, auch wenn nichts passiert, sie als poetische Chiffren für seine gegenwärtige Lebenssituation deutet. Ein professioneller Textexeget ist eben immer im Einsatz: Der Leerlauf des akademischen Müßiggangs, Schlittschuhläufer auf dem Campus, die unaufhörlich um die leere Mitte des Sees kreisen, ein fast täglich aufgesuchtes Gemälde mit einem Quadrat, um das sich konzentrische Kreise formieren, ein Schädeltraumapatient, der einen einzigen Satz wie ein Mantra wiederholt – Reed spiegelt sich in diesen Zeichen, liest sie als Metaphern seines eigenen Schicksals. Denn auch er kreist um ein existenzielles Vakuum, den Verlust seiner Familie, obwohl er andererseits bemerkt, wie die Erinnerung an sie immer mehr verblasst.
Trotzdem kommt er aus dieser Spirale des Trauerns nicht heraus, bis er Flower kennenlernt, die gerade mal halb so alte Performancekünstlerin, die sich vor Publikum die Scham rasiert, die Stripperin, die beinahe jeden Amateurwettbewerb gewinnt, weil sie keine Hemmungen kennt und dem Publikumsgegröle „Zeig uns alles!“ gern gehorcht. Reed bewundert sie wegen ihrer Vitalität und Wildheit, hat beinahe ein Verhältnis mit ihr, flüchtet dann aber doch, weil sie ihn zu sehr an seine Tochter erinnert. Immerhin, sie exorziert die Geister der Vergangenheit, wirft ihn aus der Bahn und damit ins richtige Leben zurück. „Der Name der Welt“ ist Flower. Aus dem Historiker, und auch das ist natürlich symbolisch zu verstehen, wird ein erlebnishungriger Journalist, der sich in der Folge auf den Kriegsschauplätzen dieser Erde tummelt.
Am Ende des Buches weilt Reed auf einer griechischen Insel und schreibt sich seine Wiedergeburt von der Seele. Auf einer zweiten Lektüreebene ist „Der Name der Welt“ damit auch ein poetologischer Roman, einer, der die eigenen Entstehungsbedingungen und seinen Produktionsprozess vorführt. Und das ist dann auch sein prinzipielles ästhetisches Problem. Sosehr man Reeds Einfallsreichtum, seinen langweiligen Alltag symbolisch aufzuwerten und damit also ästhetisch zu inventarisieren, bewundern mag, er lässt auch nichts offen, liefert die eigene Interpretation immer gleich mit. Man wäre manchmal einfach gern selber drauf gekommen. Und auch seine immer abgewogene, objektivierende, bisweilen auch leicht pedantische, detailpusselige Erzählweise ist über die volle Distanz dann doch etwas arm an Attraktionen. Letztlich laboriert dieser Roman also – nicht völlig, aber doch ein wenig – an der Perfektion seiner Mimikry: Denis Johnson lässt hier einen in der Wolle gefärbten Geisteswissenschaftler auf den Roman los. Das konnte ja nicht durchgängig gutgehen.
Denis Johnson: „Der Name der Welt“. Aus dem Englischen von Thomas Überhoff. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2007, 143 Seiten, 14,90 €