Krawalle in Frankreich: Der Zorn aus den Vorstädten
Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend?
J ulien Mari aus Marseille, genannt Jul, ist einer der bekanntesten Rapper Frankreichs. Für sein neues Video „Ragnar“ war er im Mai nach Nanterre gereist. Er versammelte Dutzende junger Männer um sich, sie reckten die Finger in die Höhe, sie fuhren durch diese Vorstadt von Paris, zogen durch die Straßen. „Ich komme von dort, wo man die Mütter schreien hört“, rappt Mari in dem Video.
Bei Minute 5:32 steht ein junger Mann neben Mari: braune Mütze, braune Augen, gesenkter Blick. Als Mari das Video vor einigen Wochen drehte, kannte niemand diesen jungen Mann. Heute ist er das wohl bekannteste Opfer von Polizeigewalt in Frankreich: Nahel Merzouk, Sohn algerischer Einwanderer, am 27. Juni im Alter von 17 Jahren bei einer Polizeikontrolle in Nanterre erschossen.
Zwei Reihen weiter hinten steht in dem Video ein 13-jähriger Junge. Er ist der Sohn von Mornia Labssi. Auch ihre Familie stammt aus Algerien, sie wuchs im selben Viertel auf wie die Merzouks. Eine Woche nach dem Tod Nahels sitzt sie in einem schwarzen Kleid mit goldenen Fingernägeln im Café Voltaire in Paris. Dort arbeitet sie als Arbeitsinspekteurin. Labssi kontrolliert, ob Betriebe Vereinbarungen zu Arbeitszeiten und dem Mindestlohn einhalten.
Sie wusste, dass es ihr Kind war
Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi. „Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt: „Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet. Dann verbreitete sich das Video von den Todesschüssen in den sozialen Netzwerken.
Der Polizist hatte die Schüsse fast direkt neben der Präfektur abgegeben. Labssi ging zu dem Ort. Am Mittag lag die Leiche noch abgedeckt auf dem Boden. Nahels Mutter stand an der Absperrung. „Diese Szene werde ich nie vergessen. Sie wusste, dass das ihr Kind war. Aber sie durfte nicht zu ihm. Er war der einzige Sohn. Sie haben zusammen gelebt. Sie hat jetzt nichts mehr.“
Mornia Labssi, Einwohnerin von Nanterre
Labssi schaut aus dem Fenster und fängt an zu weinen.
Am Abend gingen sie und ihr Sohn zu Nahels Mutter nach Hause, brachten Essen. Viele Menschen aus dem Viertel waren da.
Von Nahel redeten jetzt alle. Aber es gebe so viele andere, sagt Labssi. „Sie behandeln uns wie Tiere. Als ob wir keine Menschen wären.“
Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“ seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben.
„Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi.
Ihr Vater, erzählt sie, habe in Algerien bei der FLN im Widerstand gegen die Franzosen gekämpft. Im Jahr 1971 kam er nach Frankreich, um Arbeit zu finden. Labssi wurde in Nanterre geboren, sie hat sieben Geschwister. Als einzige lebt sie noch in der Banlieue, neben der Wohnung der Mutter. Diese ist 87 Jahre alt, Französisch spricht sie bis heute nicht.
Wer hier wohnt, muss mit Kontrollen rechnen
Wer hier wohne, in der Vorstadt, müsse damit rechnen, mehrmals am Tag kontrolliert zu werden, sagt Labssi. Und immer könne das geschehen, was mit Merzouk passiert ist: „Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“
Seit zwei Jahren ist Labssi im Koordinationsrat der Committees pour la defense des Quartiers Populaires, einem landesweiten Verband der Banlieue-Bewohner.
Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben schlechte Eltern und Delinquenten.“
In den Tagen nach den Krawallen hat Labssi Familien junger Festgenommener zu den Gerichtsverfahren begleitet. „Sie klagen sie immer in Gruppen von drei oder vier an“, sagt Labssi. Schnellverfahren in Serie seien das, allein auf Grundlage vager schriftlicher Anschuldigungen in Polizeiberichten. „Die Polizisten machen sich nicht mal die Mühe, zum Prozess zu kommen.“ In einem Fall seien zwei Minderjährige wegen Brillendiebstahls verurteilt worden. „Der einzige Beweis: dass irgendwo in der Nähe eine Tasche mit Brillen gefunden wurde. Das reicht.“
Der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen sage „schon die ganze Zeit, dass die Migranten Islamisten, Gewalttäter und Diebe“ seien. 70 Prozent der Polizisten wählten Le Pen, glaubt Labssi.
Seit 2017 dürfen Polizisten die Waffe auch dann einsetzen, wenn kein Leben bedroht ist und mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen haben. „Wie können die das rechtfertigen?“, fragt Labssi. Für sie zeigt das: „Die Exekutive sieht uns nicht als Bürger, sondern als Feinde.“ Und deshalb kämpfe die Polizei gegen die Menschen in den Banlieues „wie gegen eine fremde Armee.“
Gefährliche Entwicklung
Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt: Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes „geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi.
Die Antwort des Staates auf die Misere in den Banlieus sei: „Hier habt ihr Geld, macht damit schöne Projekte – und dann bleibt in eurem Ghetto.“ Die seit Jahrzehnten fließenden Subventionen seien „nicht, damit es besser wird, sondern damit wir unter uns bleiben“. glaubt Labssi. Eine Veränderung müsse auf zwei Ebenen ansetzen: auf der juristischen Ebene einerseits und bei der Stadtplanung andererseits. Das repressive Polizeirecht und die ausschließende Architektur der Banlieues: „Das hängt zusammen“, ist Labssi überzeugt.
Sie gehört zu einer Gruppe, die am Dienstag eine Petition gestartet hat, um die Spendensammlung für die Familie des Polizisten zu stoppen, der Nahel Merzouk erschossen hatte. Bis Mittwochnachmittag waren dabei 1,7 Millionen Euro zusammengekommen. „Das ist eine klare politische Botschaft: Wer in Frankreich einen Araber ermordet, wird Millionär“, sagt Labssi. Gegen diese Haltung würden die jungen Leute rebellieren: „Sie sind keine Delinquenten. Wir sind da, wir sind Franzosen und wir akzeptieren das nicht mehr.“
Aber so einfach ist es nicht. Ihr eigener Sohn kommt nun genau in das Alter, in dem er selbst zum Opfer werden kann. Labssi sagt, sie habe deshalb schon darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen.
Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle.
Beamte stellen Blut fest, aber fesseln ihn trotzdem
Im Jahr 2017 wurde ihr Bruder Théo Luhaka von vier Polizisten der Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken angegriffen. Auf der Wache bemerkt ein Beamter, dass „er aus dem Arsch blutet“. Die Beamten stellen die Blutspuren auf dem Sitz des Fahrzeugs und auf seiner Hose fest, fesseln Luhaka aber dennoch erst mal an eine Bank. Die Feuerwehr bringt ihn schließlich als Notfall in ein Krankenhaus. Dort diagnostizieren die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten hat einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt.
Der Fall gehört zu den bekannteren Polizeigewaltskandalen der letzten Jahre – auch weil Éléonore Luhaka sich mit dem Vorfall nicht abfinden will.
Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht.
Sonst gab es nichts.
Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend gemacht, 10.000 Euro gab es. „Wir sollen uns keine Illusionen machen“, habe er gesagt, erzählt Éléonore Luhaka. Viel mehr werde es am Ende nicht werden.
Ihr Bruder ist dauerhaft erwerbsunfähig geschrieben, er bezieht eine kleine Rente. Nach dem Tod von Nahel Merzouk ist Théo mit einem seiner Brüder nach Nanterre gefahren. Er hat die Mutter von Nahel besucht.
Éléonore Luhaka sagt: „Bis heute fahren die Polizisten langsam an unserem Haus vorbei. Wenn sie meinen Bruder sehen, dann winken sie ihm mit dem Schlagstock. ‚Hallo Théo‘, rufen sie dann.“
Eine Drohung?
„Spott.“
Wie oft kommt das vor?
„Dauernd.“
Sie selbst will das Land verlassen. „Aber nicht als Flüchtling.“ Vorher will sie etwas aufbauen. Bei der Stiftung des Schwarzen US-Schauspielers Forest Whittaker macht sie derzeit eine Fortbildung. Danach will sie ein Projekt für benachteiligte Jugendliche in den Banlieues starten.
Lange Zeit hat er gar nicht gesprochen
Ihrem Bruder habe ein Psychiater Medikamente gegen die Schlafstörungen verschrieben. Eine Psychotherapie konnte er erst vor Kurzem beginnen. Lange Zeit habe er fast gar nicht gesprochen. „Sobald es lauter wurde, hat er sofort die Kopfhörer aufgesetzt.“ Die Wohnung zu verlassen, falle ihm schwer. Eine Reise nach Paris sei für ihn wie eine in ein anderes Land. Deshalb wolle er in Aulnay bleiben. „Das gibt ihm Sicherheit, trotz allem.“
Sicherheit will auch Zartoshte Bakhtiari. Er ist Bürgermeister von Neuilly-sur-Marne im Südosten von Paris. Auch hier gab es schwere Krawalle. Bakhtiari sieht die Dinge grundlegend anders als die Banlieue-Bewohnerinnen Labssi und Luhaka.
Als Nahel Merzouk erschossen wurde, war Bakhtiari in Rom: „Die einzige Woche Urlaub im Jahr.“ In der zweiten Nacht bekam er eine SMS des Präfekten des Departement Seine-Saint-Denis. „Euer Rathaus und eure Lokalpolizeiwache könnten gleich in Flammen aufgehen“, sagte der Präfekt. Um 1.40 Uhr in der Frühe war das.
Seither hat Bakhtiari keine Ruhe mehr. „Die Tage fließen ineinander, ich schlafe immer nur zwei Stunden pro Nacht. Meine Augenringe müssen ganz schlimm sein.“
Er ist Anfang 30, im blauen Slimfit-Anzug sieht er aus wie ein aufstrebender Banker, er redet schnell, dabei fehlt ihm jede Kühle, vielmehr verströmt er eine weiche Freundlichkeit. Sein Rathaus ist seit den Krawallen geschlossen. Wer ihn sprechen will, muss ihm eine SMS schicken, dann kommt eine Mitarbeiterin und schließt die Tür von innen auf.
In der ersten Nacht schickten Ratsleute ihm Videos: „Wir wurden an allen möglichen Stellen angegriffen.“ Sieben Polizeiwagen verbrannten, das Wohngeldamt, das Gebäude der Jugendsozialhilfe, ein Teil der Bibliothek, eine Grundschule wurden demoliert. Im Stadtteil Fauvette brannten auch ein Bistro ab, ein Optiker, das einzige Lebensmittelgeschäft, die Post, die Bank mit dem einzigen Geldautomaten. „Die Randalierer leben dort und haben all diese Dinge, die sie selbst brauchen, jetzt nicht mehr“, sagt Bakthiari. „Das ergibt überhaupt keinen Sinn.“
In der zweiten Nacht verhängte Bakthiari eine Ausgangssperre. Außer ihm tat das nur ein weiterer Bürgermeister in ganz Frankreich. „Das hat geholfen“, sagt Bakthiari. „In der Nacht davor waren Gruppen von 30 bis 40 Menschen unterwegs, nach der Ausgangssperre waren die Gruppen viel kleiner, die Polizei konnte sie leichter in ihre Häuser zurückschicken. „Natürlich ist das gegen die Freiheit, aber die Situation erforderte das.“
Die vergangenen Tage brachte Bakthiari damit zu, mit Gutachtern zu sprechen. Die Mediathek könne frühestens in vier Monaten wieder öffnen, das Wohngeldamt nicht vor September. „Dabei sind 2.300 Menschen auf dessen Leistungen angewiesen. Die Randalierer haben da ihre eigenen Akten verbrannt.“
Vor allem für die privaten Geschädigten sehe es schlecht aus. Vielleicht zahle eine Versicherung, vielleicht auch nicht. „Aber die psychischen Schäden sind da.“
Gründe, woher die Wut kommt
Für viele Menschen in Frankreich ist klar, wo die hinter der Zerstörung stehende Wut herkommt: Stigmatisierung, Diskriminierung, sozialer Ausschluss, Polizeigewalt. Bakthiari glaubt das nicht. Am Vortag war er bei einem Treffen mit anderen Bürgermeistern im Élyséepalast. Dort sei auch der Bürgermeister von Nanterre gewesen, ein Kommunist, der habe auch diese Erklärungen für die Ausschreitungen parat gehabt. „Ich habe ihm direkt widersprochen“, sagt Bakthiari.
Er selbst sei im Stadtteil Fauvette aufgewachsen, bis er 14 Jahre alt war. „Ich kann diese Erklärungen keine Sekunde akzeptieren.“ Es gebe dort die meisten Bushaltestellen, die meisten sozialen Einrichtungen, die meisten Schulen, Parks, Sportanlagen. Es gebe Ärzte, die Gemeinde habe dort die meisten Grünanlagen angelegt: „Es ist alles da. Man muss aufhören, nach diesen Entschuldigungen zu suchen.“
Seine Eltern seien 1979 aus dem Iran nach Frankreich gezogen, auch er habe einen nichtfranzösischen Namen. „Das entschuldigt gar nichts.“ Er, Bakthiari, habe sich trotzdem integriert. „Das hier ist mein Land.“
Bakthiari glaubt an andere Ursachen für die Krawalle. Ein Grund sind aus seiner Sicht die sozialen Medien. Eine andere Ursache, sagt er, sei die Erziehung. „Der jüngste hier Festgenommene war 13 Jahre alt. Er wurde um 4.30 Uhr mit einem Molotowcocktail vor der Polizeiwache festgenommen. Was macht man in dem Alter um diese Zeit auf der Straße?“
Man müsse die Eltern verantwortlich machen, und wenn sie nicht in der Lage seien, Verantwortung zu übernehmen, müsse man die Kinder vorübergehend zur Erziehung in staatliche Einrichtungen bringen, sagt Bakthiari.
Dort solle es zugehen „wie in einer militärischen Einrichtung“, findet er: Um 5 Uhr aufstehen, putzen, Disziplin, Respekt vor Autoritäten lernen; so stellt er sich das vor.
Am Dienstag hatte Präsident Emmanuel Macron die Bürgermeister von 200 Kommunen eingeladen, in denen es Ausschreitungen gegeben hatte. Nach drei Stunden, noch bevor das Treffen endete, war Bakhtiari aus dem Élyséepalast herausmarschiert und hatte in die Fernsehkameras gesagt, wie enttäuscht er sei. „Macron hat bis zu dem Zeitpunkt, wo ich gegangen bin, nichts gesagt“, sagt Bakhtiari. Nur die Bürgermeister hätten untereinander gesprochen. „Es war wie bei einer Gruppentherapie. Alle haben sich gegenseitig erzählt, dass sie übermüdet und wütend sind. Aber die Regierung hatte absolut nichts vorbereitet.“
Den Ausschreitungen müsse mit mehr Härte begegnet werden, glaubt er. „Das waren hier nur 40 Leute, das sind 0,1 Prozent der Einwohner. Das kann doch nicht sein, dass die die anderen 99,9 Prozent terrorisieren und denen Angst machen.“ Und so müsse die Polizei sich mehr Respekt verschaffen, findet der Bürgermeister. „Ich sage nicht, dass sie den Menschen Angst machen soll. Aber es ist besser, wenn 40 Delinquenten Angst vor der Polizei haben, als dass die Handvoll Straftäter 40.000 Einwohnern Angst machen.“
Urteile müssen schneller gesprochen werden
Gruppen hätten sich immer wieder mit Molotowcocktails dem Rathaus und der Polizeiwache genähert. Für solche Fälle brauche auch die lokale Polizei Drohnen. „Es heißt, die verstießen gegen das Recht auf Privatsphäre der Menschen. Aber die sollen ja nicht in die Wohnungen gucken“, sagt Bakhtiari.
Die Urteile, sagt er außerdem, müssten viel schneller gesprochen werden. „Ich bin selbst Anwalt“, sagt er und zeigt hinter seinen Schreibtisch, wo seine Robe hängt. „Alles muss korrekt sein. Aber schnell.“ Sonst gebe es keinen Respekt vor der Justiz.
Das einige Kilometer nördlich gelegene Clichy-sous-Bois war lange der Inbegriff explodierender Gewalt in den Pariser Banlieues. Die bis heute schwersten Krawalle nahmen hier ihren Anfang, als zwei Jugendliche am 27. Oktober 2005 auf der Flucht vor der Polizei von Stromschlägen in einem Trafohäuschen tödlich getroffen wurden. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy beschuldigte sie zu Unrecht des Diebstahls. Er sprach davon, wegen der über Wochen andauernden Krawalle das „Gesindel“ und den „Abschaum“ („racaille“) „wegkärchern“ zu wollen.
Bis heute ist das vielen unvergessen.
Im Zentrum von Clichy-sous-Bois stehen auch heute ausgebrannte Autowracks um ein verfallenes, verbarrikadiertes Einkaufszentrum im Stadtkern. Wie Kadaver liegen sie da, rostige Gerippe, Monumente der Wut. Wohnblöcke ragen in den Himmel, nicht sehr hoch, grau, rostrote Fensterläden. In den 1960er Jahren waren diese Gebäude ein Versprechen auf Zukunft und Wohlstand – moderner Wohnraum für die Massen, die vom Land, aus den verfallenden und überbevölkerten Kernstädten und aus den einstigen Kolonien in den hochindustrialisierten Pariser Umlandgürtel strömten.
Heute sind nur wenige Menschen auf den Straßen zu sehen. Fast alle diese Menschen sind Schwarz oder arabischstämmig.
Nach dem Tod Merzouks blieb es in Clichy-sous-Bois vergleichsweise ruhig. Viele glauben, das sei das Verdienst von Mohamed Mechmache. Der Sohn algerischer Einwanderer ist in Clichy-sous-Bois aufgewachsen. Am siebten Tag nach Nahel Merzouks Tod steht er vor einem kleinen Kulturzentum der NGO ACLEFEU, die er 2005 gründete. Im Hof parken zwei Kleinbusse, Freiwillige beladen sie, am Nachmittag soll eine Familienfreizeit beginnen. Mechmache steht dazwischen und telefoniert.
Von mehr Härte, so wie der Bürgermeister Bakhtiari sie will, hält er nichts. „Die Polizeigewerkschaften wollten 2005 auch mehr Repression. Hat das was geändert? Nein“, beantwortet er seine Frage sogleich selbst. Er selbst habe keine Probleme mit der Polizei, sagt er – er sei, im Gegenteil, im Austausch mit ihnen. „Aber viele junge Menschen sind für den Dialog nicht mehr offen.“
Er habe nach 2005 das Zentrum aufgebaut, weil es „eine soziale Revolte gab“, sagt er. „Die Menschen wollten „soziale Gerechtigkeit und die Behandlung nach gleichem Recht“. Doch bis heute gebe es Diskriminierung und Stigmatisierung. „Weil man hier wohnt, wegen des Namens, der Hautfarbe. Das ist schlecht für eine Anstellung oder eine Wohnung anderswo, es zerstört Zukunftsperspektiven.“
Seit 2005 habe seine Organisation auf diese Zustände aufmerksam gemacht. „Wir haben gesagt, dass eine Zeit kommen wird, in der die Jugendlichen nicht mehr diskutieren wollen, weil sie keine Möglichkeiten sehen, ihre Wut zu artikulieren.“ Das entschuldige nichts. „Ich verurteile das, was geschieht.“ Aber es gebe auch eine Verantwortung der Politik.
Die Bemühungen sind nicht genug
ACLEFEU bietet Antigewalttrainings, eine Lebensmitteltafel, ein „Antischulabbruchprojekt“. 300 Freiwillige hat Mechmache rekrutiert, er ist in ganz Frankreich für seine Arbeit anerkannt.
Natürlich gebe es Dinge, die seit 2005 vorangekommen seien, sagt er. Die Renovierung der Architektur etwa. „Das war zwingend. Die Wohnungen der Menschen waren 30, 40 Jahre lang verfallen, das sind dann keine Orte mehr für ein würdiges Leben.“ Zum Teil seien sie instandgesetzt worden. „Aber das reicht nicht, wenn man die soziale Frage nicht beantwortet“, meint Mechmache.
Es gebe heute mehr Infrastruktur, Schulen, ÖPNV, Kultur- und Sportanlagen in der Stadt. Die Größe von Schulklassen sei teils verringert worden, um bessere Förderung zu ermöglichen.
Aber es sei eben „nicht genug, damit auch andere Menschen hier wohnen wollen“. Und solange niemand von außerhalb der Banlieues hier hin kommen wolle, gebe es keine soziale Mischung. Das, ist Mechmache überzeugt, sei das zugrundeliegende Problem.
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