Korrespondenten über ein Jahr Schwarz-Gelb: Frau Merkel schätzt man im Rückblick
Kanzlerin Merkel wird missverstanden: Anders als behauptet wird, hat sie eine Leitidee, die es verdient, "Vision" genannt zu werden, urteilt der "Economist"-Korrespondent.
The Economist sprach sich vor einem Jahr für eine christlich-liberale Koalition aus. Vor den Wahlen baten wir die Deutschen, "Angela Merkel freizugeben". Wir glaubten, sie müsse sich von der SPD lösen, die nach den Schröder-Jahren Angst vor Reformen hatte, und könne in einer Koalition mit den Liberalen ihre Reformagenda verwirklichen: Gesundheit, Arbeitsmarkt, Steuern. Danke, dass Sie unserer Empfehlung gefolgt sind. Was das Resultat angeht, ist The Economist jedoch bis jetzt auch nicht begeisterter als die meisten deutschen Wähler.
leitet seit drei Jahren das Berlin-Büro des liberalen britischen Wirtschafts- und Wochenmagazins The Economist.
Dennoch möchte ich in einem Punkt widersprechen, bei dem ich glaube, dass Frau Merkel missverstanden wird. Ich meine damit die Annahme, sie habe keine "Vision". Logisch, dass ihre Gegner das so sehen. Doch selbst ihre Anhänger beklagen fehlende politische Leidenschaft. Da, wo sie mit dem Herzen dabei sein sollte, beeindrucke sie mit einer bewundernswerten Detailkenntnis der Materie, Pragmatismus und Machtinstinkt.
Dem stimme ich so nicht zu. Richtig, Merkel sind Ideologie und Pathos fremd. Trotzdem hat sie eine Leitidee, die es verdient, "Vision" genannt zu werden. Sie will Deutschland auf die ferne Zukunft vorbereiten - hinsichtlich solcher Herausforderungen wie dem demografischen und klimatischen Wandel, der Integration, dem Aufstieg Asiens. Einige davon spiegeln sich in den Ängsten wider, die Thilo Sarrazin so brisant vermischt hat.
Warum nur wird Angela Merkel des Opportunismus bezichtigt? Vielleicht weil sie es nicht geschafft hat, ihr Anliegen in einer "erzählerischen Verpackung" zu vermitteln. Für eine politische Führungspersönlichkeit ist nicht allein entscheidend, was sie tut, sondern wie sie erklärt, warum sie es tut. Sie müsste dies mit einer spannenden Geschichte tun, damit ihre Wählerschaft den Sinn ihres Handelns versteht.
Eine derartige Vorgehensweise ist Frau Merkel fremd. Das war während der großen Koalition auch nicht so wichtig - sie war die erste ostdeutsche Kanzlerin. Doch dann kam die Krise, und damit war eher Handeln als Erklären gefragt. Die große Koalition bot damals selbst Stoff für eine Geschichte: Während sich Trojaner und Achaier die Köpfe einschlugen, thronte Frau Merkel auf dem Olymp, bis der Moment der Verkündung von Sieg oder Niederlage kam. Bei Schwarz-Gelb hat sie eine andere Rolle zu spielen, nämlich eher die einer Königin von Kriegern. Noch immer sagt sie nicht, wofür und warum ihr Heer kämpft.
Weil Angela Merkel schwer zu deuten ist, wird sie schnell unterschätzt. Die Leistungen der großen Koalition waren besser als angenommen. Ich sage nicht voraus, dass Frau Merkels Kritiker unrecht haben werden, gibt es doch viele Möglichkeiten zu scheitern. Doch ich habe sie nicht abgeschrieben. Frau Merkel, so ist meine Vermutung, wird man eines Tages wohl eher im Rückblick zu schätzen wissen.
Übersetzung: Sabine Seifert
Am Montag erscheinen in der Print-Ausgabe der taz elf Texte von Deutschland-Korrespondenten renommierter Auslandsmedien, die eine Zwischenbilanz über ein Jahr schwarz-gelbe Koalition ziehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“