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Korngold?

■ John Dew inszenierte in Bielefeld „Das Wunder der Heliane“

Frieder Reininghaus

Die in den zwanziger Jahren erfolgreichste Oper aus zeitgenössischer Produktion feierte in den achtziger Jahren ein glänzendes Comeback: Die tote Stadt erregte in Berlin die kunstsinnigen Gemüter. Auch an der Deutschen Oper am Rhein, in Düsseldorf und Duisburg erschien diese Jugendstil-Oper in der Saison 86/87, inszeniert von Günter Krämer, nicht minder magnetisch. 1920 war sie, zeitgleich, in Köln und Hamburg uraufgeführt worden, hatte in den folgenden Jahren an achtzig Theatern als Kassenschlager funktioniert. Ein Dreiundzwanzigjähriger holte auf einen Schlag Richard Strauss und Puccini ein.

1933 verschwanden er und sein Werk aus Deutschland. Ein Jahr später, im Gefolge von Max Reinhard, tauchte er in den Vereinigten Staaten wieder auf, ließ sich in Hollywood nieder (wo er 1957 starb). Seine Partituren für die Filme Robin Hood und Anthony Adverse der Warner Bros.Company erhielten Oscars. Mittlerweile war das Wunderkind Mitte dreißig. Noch vor seinem zehnten Geburtstag waren seine ersten Kammermusikwerke öffentlich zelebriert worden. Gustav Mahler wies auf sein Talent hin. Alexander von Zemlinsky unterrichtete ihn. Die Wiener Hofoper produzierte 1910 sein Ballett Der Schneemann. Der frühe Erfolg fand Neider. Er war Jude. Und sein Vater Julius, Jurist und Kritiker dazu, Kollege und Nachfolger des Eduard Hanslick, wurde ebenso wie der Sohn geschmäht: klar doch, Protektionismus. Und Schlimmeres.

Obwohl sie gelegentlich bei seiner Musik - mit und ohne Bilder - schwelgen, sind die Deutschen mit ihm fertig. Besonders die Wissenschaftler. Auch die Jüngeren. So braucht es immer wieder die Außenseiter, die sich dem Common sense nicht einbequemen. John Dew, zum Beispiel.

Die Höhenflüge in Berlin (Hugenotten, Margarethe, Los Alamos) und anderswo haben diesen Regisseur bislang noch nicht veranlaßt, seine Pflichten als, wie es auf gut deutsch heißt, „Oberspielleiter“ am Stadttheater in Bielefeld zu vernachlässigen. Dort hält er nicht nur eine Reihe mit prononciert politischen Werken des Musiktheaters am Laufen (Anteils Transatlantic, Hindemiths Neues vom Tage und Boitos Nero gehören ihr an), sondern vor allem auch eine Serie von Inszenierungen zum Bild der Frau in der Oper des 20.Jahrhunderts. Deshalb realisierte er Thea Musgraves Maria Stuart und Die Ballade von Baby Doe von Douglas Moore, Die ersten Menschen von Rudi Stephan und Fennimore und Gerda von Frederick Delius - sogar die Frau ohne Schatten des Richard Strauss. Womöglich ist Dew einer der besten Verbündeten der Frauenbewegung. Nur merkt die es nicht.

In dieser, dem kontrast- und facettenreichen Bild der Frau im Musiktheater des 20.Jahrhunderts gewidmeten Reihe erschien nun das Wunder der Heliane. Das Werk wurde 1927 uraufgeführt, in Hamburg und Wien zur Sensation der Saison. Diese Heliane ist leider alles andere als eine moderne Frau. Das Libretto der Oper (nach Hans Kaltnekers Mysterium) projeziert vornehmlich männliche Wunschträume: Sie sei ein unberührtes Schneewittchen, obzwar seit geraumer Zeit verheiratet - mit einem höchst gewalttätigen Despoten; ein Kindweib, „weiß wie Schnee“. Sie bleibe „unberührt“ bis in den Tod, an „einem Tag von unirdischer Schönheit... in entkörpertem Glück“.

Im fernen Symbolien, wo die Geschichte wohl spielt, steht auf Lust und Liebe der Tod. Der Tyrann befiehlt: „Wer küßt, vors Beil.“ So wartet ein namenloser Fremdling zunächst einmal im Verlies bei der Kapelle auf die Hinrichtung. Der Gewaltherrscher erscheint, verkündet persönlich das in einem Geheimprozeß gefällte Urteil. (Die Nazis haben solche, im konservativen Opernmilieu während der zwanziger Jahre vorgeführten Phantasien zur blutigen Realität werden lassen). Zum Trost des Delinquenten erscheint auch die Gattin des Diktators in der Todeszelle; sie verliebt sich in den hübschen Jüngling und gibt, was sie zu geben vermag: „Das strenge Gewand fällt von ihr ab, ein hauchdünnes Hemde umhüllt ihren Körper, dessen Glieder wundervoll durchstrahlen.“ Spätestens bei solchen Textstellen ist zu ahnen, warum diese Oper in den späten zwanziger Jahren so erfolgreich war.

Freilich zeichnet sie sich durch eine höchst elaborierte Musik aus: Vom zartesten Weben der Streicher bis zu den nicht enden wollenden Eruptionen des Tutti verfügt die Partitur über alle spätromantischen Raffinessen. „Ich verschließe mich keineswegs gegen die harmonischen Bereicherungen, die wir etwa Schönberg verdanken“, erklärte unser Komponist 1926 einer Wiener Zeitung, „aber ich verzichte deshalb nicht auf die eminenten Ausdrucksmöglichkeiten der alten Musik.“ Kurz gesagt: Die vorwaltende harmonische Schwelle wird durch einige kolorierende Dissonanzen aufgebrochen (die Studio-Musiker nannten das früher „Pfefferminz-Akkorde“). Über weite Strecken herrscht ein Überdruck der Einfälle, auf die der Komponist nach klassischer deutscher Tradition sich beruft: ein Überdruck des orchestralen Espressivos, ein Überdruck der Sehnsucht nach Sehnsucht.

Die Widrigkeiten bei der Bielefelder Wiederaufführung des Wunders der Heliane waren erheblich: Während der Hauptprobe erkrankte der Solo-Tenor; mehrere Rollen mußten sehr kurzfristig umbesetzt werden. Aber der Ensemble-Geist und die Geschicklichkeit des Regisseurs retteten das Unternehmen (freilich mit viel Glück). Sogar Dew selbst spielte mit. Insbesondere durch Ingeborg Schneider, die mit ihrer großen Sopranstimme der Titelrolle gerecht wurde, und durch den bewährten Opern-Bösewicht Monte Jaffe erhielt die Aufführung artistische Brillanz.

Die Imponderabilien wurden durch die Inszenierung mehr als wettgemacht. Durch einen Gaze-Vorhang und blaues Licht, durch eine auf wenige geometrische Figuren reduzierte Kulisse entstanden Bilder der äußersten Unwirklichkeit. Die Stichworte Mysterium und Wunder im Titel der Textvorlage wurden wörtlich genommen: blaue Wunder aus der Trick-Kiste des Regie-Theaters für alle, die daran glauben wollen. Aber auch den Ungläubigen wurde eine gewisse Genugtuung gewährt: Das blonde Schneewittchen, das da der männlichen Schaulust angeboten wird, erscheint als erotisches Symbol problematisiert. Und der böse Diktator wird schlußendlich aus der erregten Menge seiner Untertanen mit ein paar Schüssen niedergestreckt. Die gemeine Prosa kommentiert die schwül überhöhte Poesie. Das Wunder der Heliane gehört der langen Tradition der Gefängnis- und Befreiungs-Opern an (obwohl hier die Befreiung eine rein ideelle ist). Die Wiederaufführung dieser Oper rückte beiläufig auch die Geschichtsschreibung der Musik des 20.Jahrhunderts etwas zurecht, aus der Werke wie dieses „herausfielen“. Das Premierenpublikum belohnte den Wagemut und die glücklich zu Ende gebrachte Aufführung mit langem, starkem Beifall.

Ende der zwanziger Jahre brachte die österreichische Tabek-Regie zwei neue Zigaretten-Marken auf den Markt: Johnny und Heliane. Die eine, benannt nach Kreneks provokativem Johnny spielt auf - eine Billigmarke. Heliane, mit goldenem Mundstück, war für den „besonderen Geschmack“ bestimmt und erheblich teurer. Alle Wunder lösen sich, werden sie erst gebührend vermarktet, in blauen Dunst auf. So geht es auch der reinen (Theater-)Liebe, die mit dem Wunder der Heliane von 1927 die reinste Liebe einer nicht ganz sauberen Schaulust preisgab. Aber vielleicht muß das so sein: je niedriger das tägliche Leben, je schmutziger das lebenserhaltende Geschäft, je elender die gesellschaftliche Lage, desto hochtönender, aufrauschender, engelsgleicher will dem Bürger der Gesang von reiner Liebe tönen. Das Wunder der Heliane, das ist: deutscher Idealismus, Spätlese, Flaschengärung.

Der Komponist der genialischen Heliane-Musik heißt übrigens Korngold. Erich Wolfgang Korngold.

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