KOMMENTARE: Kopenhagens „Nein“ als Chance
■ Die Maastrichter Verträge bedürfen der radikalen Überarbeitung
Fünfunddreißig Jahre nach ihren Anfängen in Rom hat die Europäische Gemeinschaft am Dienstag in Dänemark ihre schwerste innere Niederlage erlitten. Die jahrelang vorbereiteten, von den Regierungen sämtlicher Mitgliedsländer abgesegneten und als „historischer Fortschritt“ gefeierten Maastrichter Verträge fielen gleich beim ersten Volk, dem sie zur Begutachtung vorgelegt wurden, glatt durch. Dabei gab es gerade in Dänemark starke Argumente für ein „Ja“: Dem Land geht es nicht zuletzt wegen seiner EG-Zugehörigkeit wirtschaftlich gut, und die gesamte nationale Machtelite— von den großen Parteien bis hin zu ArbeitgeberInnen, Gewerkschaften und beinahe allen Medien— sprach sich für die Verträge aus.
Aber den DänInnen ging es bei dieser Volksabstimmung nicht um wirtschaftliche Vernunft. Auch gegenüber den Drohungen aus Brüssel, Paris und Bonn, notfalls könne die Gemeinschaft auch ohne Dänemark auskommen, blieben sie immun. Ihr Votum gegen die Maastrichter Verträge bringt anderes zum Ausdruck: die Angst der Kleinen in der EG, untergebuttert zu werden. Diese Verlustängste reichen von der eigenen Sprache und Kultur über die Mitspracherechte bis hin zu demokratischen Kontrollmöglichkeiten der Institutionen, die letzlich auch ihren Alltag bestimmen. Sicherlich spielen auch nationalistische Ängste vor Überfremdung eine Rolle, und sicherlich applaudieren jetzt auch — aber nicht nur — rechtsradikale europafeindliche Kräfte allerorten. Dänemark zeichnet sich nicht gerade durch Chauvinismus aus. Vielmehr hat es — wie viele andere kleinere EG-Länder auch — eine solide demokratische Tradition. Vor diesem Hintergrund sollte dieses durch alle Parteien gehende „Nein“ zu den Maastrichter Verträgen der gesamten EG als deutliche Warnung gelten. Die EG, einst Trägerin europäischer Hoffnungen und Träume, hat sich zu einem abgehobenen technokratischen Gebilde entwickelt, vor dessen unkontrollierbarer Macht die BürgerInnen Angst haben.
Brüssel und die Regierungen der anderen elf Mitgliedsländer täten genau das Falsche, wenn sie Dänemark jetzt als lästige Bremserin ausstoßen oder in eine zweite Reihe von „langsameren Mitgliedsländern“ verdammen würden. Damit lieferten sie eine neuerliche Bestätigung dafür, daß die EG ein Club ist, in dem allein die Großen die Gangart bestimmen. In den beitrittswilligen Efta-Ländern, aber auch in Mittelosteuropa, würde sie damit den GegnerInnen einer weiteren europäischen Integration in die Hände arbeiten. Und der Desintegration im europäischen Osten könnte eine vergleichbare Entwicklung im Westen folgen.
Statt dessen sollte das Signal aus Kopenhagen als Chance gewertet werden. Die gestern erfolgte Ankündigung der französischen Regierung, ebenfalls ein Referendum durchzuführen, war ein erster Schritt in diese Richtung. Doch bevor die Maastrichter Verträge auch im übrigen Europa der jeweiligen Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden, müssen sie radikal überarbeitet werden. Die längst auch von oppositionellen Kräften in den großen EG-Mitgliedsländern eingeforderte Demokratisierung der EG muß erster Tagesordnungspunkt in Brüssel werden. Dorothea Hahn
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