Konzert von Paul McCartney in Berlin: Sonnenschein und Schwermut
Paul McCartney schließt in der Berliner Waldbühne seine „One on One“-Tournee ab. Er spielt ein überbordendes, nostalgisches Konzert.
Man ahnte es schon: Durch die ausverkaufte Waldbühne weht ein Hauch von Nostalgie. Gestandene Männer verdrücken Tränen, Plakate mit Liebesbekundungen werden in die Höhe gereckt, ältere Mädchen kreischen zwar nicht, aber freuen sich trotzdem wie Bolle; Promi-Paare in Block C halten sich eng umschlungen, und wer partout niemanden zum Festhalten hat, macht ein Handyfoto von sich selbst, im Hintergrund die Bühne, und auf dieser wiederum ganz klein einer der Größten, den die Popmusik jemals hervorgebracht hat.
Oder andersherum: einer, der uns gezeigt hat, was Pop überhaupt ist und welche Glücksmomente seine Songs in den Köpfen pubertierender, schwelgerischer, träumender Zeitgenossen hervorrufen können. Die Rede ist von Paul McCartney, der noch in den Achtzigern ein bisschen schwer an der Last trug, Teil der bedeutendsten Band aller Zeiten gewesen zu sein. Inzwischen hat er damit aber offensichtlich seinen Frieden gemacht. Einmal Beatle, immer Beatle – der Widerstand gegen solch ein erdrückendes Erbe ist irgendwann in sich zusammengebrochen.
Mehr als die Hälfte der Lieder, die McCartney bei seiner „One on One“-Tour, die ihn zum Finale nach Berlin führte, darbietet, sind denn auch dem Beatles-Songbook entnommen – von „A Hard Day’s Night“ über „You Won’t See Me“ und „Blackbird“ bis zu „Let It Be“, „Hey Jude“ und „Yesterday“. Einige tolle Wings-Stücke spielt er auch, etwa „Band on the Run“ und „Nineteen Hundred and Eighty-Five“ (1973), das kürzlich von den Elektronikproduzenten Timo Maas und James Teej per Edit ins Jahr 2016 gehievt wurde. Songs aus dem Spätwerk haben es ebenfalls auf die Setlist geschafft, die eindrucksvolle 38 Stücke umfasst. Natürlich hätten es ebenso gut 38 andere Songs sein können.
Melodische Gabe
Aber genau das ist ja das Unglaubliche an diesem McCartney – dass er so viele komponiert hat, die ins Kollektivgedächtnis eingegangen sind. Kein anderer Songwriter wurde öfter gecovert, keine Songs werden öfter unter der Dusche geträllert: Melodien für Millionen. Der Schriftsteller Adam Gopnik schrieb kürzlich im New Yorker anlässlich einer neuen Biografie über Sir Paul, dass das melodische Genie ein seltsames Talent sei. Es stehe für sich und habe im Grunde wenig mit einer breiteren Begabung für Komposition zu tun. McCartney besitze diese melodische Gabe in einem absurden Übermaß.
Das ist am Dienstagabend in der Waldbühne nicht zu überhören. Die schiere Fülle an grandiosen Songs macht einen ehrfürchtig. Und obwohl McCartney, der am Samstag 74 wird, noch immer der smarte, jungenhafte Entertainer ist, obwohl er seine Deutschkenntnisse aus Hamburger Zeiten charmant anbringt, obwohl er zweieinhalb Stunden lang Hit auf Hit spielt und zwei japanische Fans auf die Bühne holt, die extra dafür nach Übersee gereist sind – obwohl es also eine mitreißende, überbordende, heitere Show ist, beschleicht einen doch der Eindruck, dass da noch ein anderes Sentiment herrscht und die Schwermut das sonnige Paul’sche Gemüt ein wenig verschattet.
Genau genommen ist dieser Konzertabend nämlich auch eine Art Totengespräch, das mit einer auf anrührende Weise brüchiger werdenden Stimme geführt wird. Am Dienstag verstarb der ehemalige Wings-Gitarrist Henry McCullough an den Spätfolgen eines Herzinfarkts, zu dem Zeitpunkt hatte McCartney wahrscheinlich noch nicht davon erfahren. „Love Me Do“ widmet der Überlebende dem kürzlich verstorbenen Produzenten-Über-Ich George Martin, „Somewhere“ dem jüngeren Beatles-Bruder George Harrison, „Here Today“ ist eine posthume Aussprache mit dem anderen Egomanen der Band und Kosongwriter John Lennon, „Maybe I’m Amazed“ singt er für seine große Liebe Linda Eastman, vor bald 20 Jahren vom Krebs dahingerafft. Eine Hommage an Jimi Hendrix schleicht sich ebenfalls ins Programm, und über die Leinwand im Hintergrund huschen Bilder eines Yesterday, dem die Melancholie noch nicht so eingeprägt und der schlimmste Trouble fremd war.
Schließlich kommen Paul McCartney und seine Musiker für die Zugabe mit Regenbogenfahne auf die Bühne, die zum Gedenken an die Opfer von Orlando geschwenkt wird. Der Abend endet mit „The End“, jenem Finale der Beatles auf ihrem Album „Abbey Road“. Da weht schon kein Hauch von Nostalgie mehr durch die Waldbühne, sondern kräftiger Wind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern