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Konterrevolution unter Besetzern

In Hannover stürmen Punker eine ehemals besetzte Fabrik, um sich für ihren Rausschmiß zu rächen. Nur mit Hilfe der Polizei kommen die eigentlichen Bewohner wieder ins Haus  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

„Die Revolution ist großartig – alles andere ist Quark“, verkündet die Parole an der Stirnseite des mächtigen Backsteingebäudes. Unter den Bewohnern des vierstöckigen Hauses ist die Stimmung zur Zeit jedoch alles andere als großartig. Die großen Scheiben an der Vorderfront der ehemals besetzten Kofferfabrik auf dem Sprengelgelände in Hannovers Nordstadt sind zerbrochen. Andere Fenster sind mit Brettern und Baken verbarrikadiert. Hinter den Eingangstüren versperren Stahlbleche den Weg. Die Sprengel-Bewohner fürchten wieder einmal, aus ihren Wohnungen vertrieben zu werden. Sie lassen Fremde nicht mehr ins Haus, schieben ständig Wache an dem einzig offenen Hintereingang.

Diesmal befürchten die rund fünfzig jungen Menschen allerdings nicht die Räumung durch die Polizei, sondern durch die Konkurrenz. Rund dreißig junge Männer und Frauen stürmten am vergangenen Freitag abend die Kofferfabrik und vertrieben für ein paar Stunden die einstigen Bewohner. Bei den handfesten Auseinandersetzungen kamen auch Holzknüppel zum Einsatz, und die sorgten auf beiden Seiten für je ein halbes Dutzend Verletzte.

Als die Polizei nach den Ausschreitungen mit zwei Hundertschaften vor dem Gelände aufzog, verschaffte sie den einstigen Bewohnern wieder Zutritt zu ihren Wohnungen. Schließlich leben die Altbesetzer seit Jahren legal auf dem Sprengelgelände, wollen demnächst mit der Stadt einen Vertrag über die Sanierung und langfristige Nutzung der Kofferfabrik abschließen.

Ausschlaggebend für die Konflikte war vermutlich ein Racheakt. Unter den dreißig Neubesetzern, die Freitag abend das Gebäude gestürmt hatten, waren auch zwei junge Männer, die zuvor schon in der Kofferfabrik gewohnt hatten. Nach ihrem Rausschmiß am letzten Donnerstag waren sie mit Verstärkung aus der Hamburger Punkszene zurückgekehrt. Für Hannovers Lokalpresse ist da alles klar: Sie interpretiert die Stürmung als einen Konflikt zwischen Punks und den Sprengel-Autonomen.

Diese Interpretation wollen Natascha und Matthias nicht gelten lassen. „Bei uns gibt es genauso viele Bunthaarige wie bei denen“, erklärt der 25jährige Matthias, und für Natascha hat die ganze Auseinandersetzung absolut nichts mit dem anstehenden Vertragsabschluß zu tun. „Da geht es einfach um Jahre andauernde Konflikte“, meint die 27jährige, „um die Lautstärke der Musik, um den Müll, einfach darum, wie man sich in seiner Umgebung verhält.“ Sie hat „das total asoziale Verhalten“ der beiden Bewohner, die von den übrigen an die Luft gesetzt wurden, auf Dauer nicht ertragen können.

Konkreter Anlaß für den Rausschmiß war ein versuchter Bierklau. Die beiden Ex-Bewohner hatten in der Schwulen- Kneipe auf dem Sprengelgelände zunächst eine Kiste Freibier, dann eine Kiste auf Pump verlangt. Als sie das Bier nicht bekamen, rotteten sie sich mit einigen Kumpels zusammen, schmissen Scheiben der Kneipe ein und sparten dabei nicht mit schwulenfeindlichen Sprüchen. Das Horst-Wessel-Lied singend, seien die beiden kollektiv Entmieteten auch schon durch die Nordstadt gezogen, meinen die Sprengelbewohner. Allerdings nicht, weil sie Nazis seien, sondern einfach um die Szene zu provozieren.

Bei der Erstürmung der Kofferfabrik mit Hilfe der Hamburger Punkverstärkung wurde auch mit Gaspistolen und Leuchtkugeln geschossen. Einige der Bewohner, die in den oberen Stockwerken eingeschlossen waren, mußten sich an der Fassade abseilen. Auch das Innere der Kofferfabrik hat bei der Randale gelitten. Die zeitweiligen Neubesetzer zerschlugen Glastüren und verglaste Trennwände, Fernseher, Stereoanlagen und Computer.

Hannovers Zeitungen stellen nach dem Vorfall vom Freitag schon den Vertrag der Stadt mit den Bewohnern in Frage. Die einstigen Besetzer selbst sind in diesem Punkt jedoch optimistisch. Sie sehen keine Gefahr für den Vertragsabschluß.

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