■ Standbild: Konkrete Poesie
„Alles aussteigen ...“, Montag, 22.15 Uhr, ORB
Der S-Bahnhof Oranienburg, nördlich der Berliner Stadtgrenze, verbindet die Provinz mit der Metropole. Aber für die Menschen auf dem Bahnhof existiert die große Stadt nicht wirklich. Das Durchreichfenster am Kiosk zeigt die Welt. 24 Jahre lang hat die Pommesfrau für eine Kulturorganisation der DDR gearbeitet, jetzt ist sie froh, überhaupt Arbeit zu haben. Einen Schuppen weiter hockt die ABM-Schwester. Sie versorgt Gestrandete, die mit den Zügen aus der großen Stadt herangespült werden. Was nach Ablauf der ABM-Sache in ein paar Monaten sein wird, weiß sie nicht.
Die Penner, die ein warmes Plätzchen suchen, steigen ohne Murren um und fahren zurück. Andere, alkoholisiert und traumatisiert, bleiben auch dann noch sitzen, wenn der Bahnhofsvorsteher „Alles aussteigen, der Zug endet hier“ gerufen hat. Sie wissen, der Zug endet gar nicht. Der Bahnhof befindet sich in der Endlosschleife.
Arpad Bondys Film über ihn unterläuft den Sensationscharakter einer 24-Stunden-Reportage. Keine dramatischen Schnitte, keine metaphorischen Zuspitzungen eines Off-Kommentators. Der Dokumentarfilm als konkrete Poesie. Beinahe unaufgefordert beginnen die Fahrgäste zu reden. Kunstlos sind die Zwischenfragen herausgeschnitten. Der Existenzgründer versucht von seinem Laden für Blumen, Obst und Alkohol aus, Ordnung in das Bahnhofsleben zu bringen. Betrunkene schickt er nach Hause: „Genug für heute. Wenn du weitersäufst, kommt nur noch der große Katzenjammer.“
Manche Fahrgäste haben Angst vor Gewalt, andere schütteln verständnislos den Kopf, wenn ein S-Bahn-Surfer sich hinaushält ins Nichts. Je sicherer die soziale Stellung, desto größer der Kontrollzwang in der begrenzten Welt. Der Zugführer bemerkt nicht, wenn die Jugendichen während der Fahrt aussteigen. Erst über Funk wird er durch den Fahrer des Gegenzugs informiert. Eine Scheibe ist zu Bruch gegangen.
Jeder Zug wird in Oranienburg gesäubert, ehe er in Richtung Wannsee zurückfährt. „Alles aussteigen ...“ heißt im Untertitel „Ein S-Bahnhof nach der Wende“. Es ist der einzige Kommentar zum Film, aber der ist unpassend. Denn der S-Bahnhof Oranienburg sieht auch kaum anders als der S-Bahnhof Yorckstraße – mitten in der großen Stadt. Harry Nutt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen