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Konfusion total im Veltlin–Tal

■ Bevölkerung und Evakuierte in der lombardischen Provinzhauptstadt Sondrio nach der Umweltkatastrophe in Aufregung / Täglich wechselnde Anordnungen / Wird die Stadt nun auch evakuiert oder nicht? / Politiker–Geschwafel statt Programme

Aus Sondrio Werner Raith

Ziemlich ratlos dreht Gianluigi Mattarella den Pinsel hin und her. „Dove la prevenzione, ministro Zamberletti“ hat er geschrieben. „Wo sind die Vorsorgemaßnahmen“, doch nun hat er gerade erfahren, daß der angekündigte Zivilschutzminister schon nicht mehr Zamberetti heißt, sondern Remo Gaspari. Da macht dann auch der Spruch keinen Sinn, denn was soll man einen schon nach Leistungen fragen, der erst wenige Stunden im Amt ist. Dabei gäbe es nicht wenig zu fragen. Was denn nun mit der groß angekündigten Evakuierung Sondrios ist, die Plakate an jeder Straßenecke verkünden, und von der sich die Leute, mit Koffern in der Hand, erzählen, daß sie gar nicht stattfindet, weil nun doch die Sonne durchgekommen ist. Oder was man am Oberlauf der Adda mit dem neuen See anfangen soll, der sich da nach gut 40 Erdrutschen gebildet und drei ganze Dörfer mit fast 100 Häusern unter sich begraben hat. Beim nächsten Wolkenbruch kann er aus seinem selbstgeschaffenen Bett ausbre chen und ein Dutzend weiterer Ortschaften, einschließlich der 23.000 Einwohner–Provinzhauptstadt Sondrio bedrohen. Oder wann man denn wieder anfangen will, die zwei Dutzend Verschollenen zu suchen, die man bereits aufgegeben hat - von denen bisher angeblich keiner weiß, wer sie zu Straßenbauarbeiten ins gesperrte und evakuierte Gebiet um SantAntonio geschickt hat. Doch: Der bisherige Zivilschutzminister amtiert nicht mehr und der neue weiß offenbar nicht einmal so ganz genau, wie er nun in Amt und Würden gekommen ist. Auf die Frage, ob es nicht hirnrissig sei, den wenigstens bei den Notmaßnahmen einigermaßen umsichtigen Minister Zamberletti ausgerechnet jetzt abzulösen, kann der Neue auch nur brummeln: „Keine Ahnung, ich wäre auch lieber Staatssekretär im Verteidigungsministerium geblieben. Vielleicht wollten sie mich hier, weil ich beim Erdbeben in Sizilien eingesetzt war. Die Menschen hier in Sondrio leben derzeit so gut wie nur noch auf der Straße - nicht nur, weil sie fluchtbereit sind, sondern auch, weil man hier ständig neue Nach richten aufschnappt. Was das Radio verkündet, ist fünf Minuten später durch gegenlautende Angaben aus der Präfektur oder dem Carabinieri–Hauptquartier, der Provinzverwaltung oder auch aus dem Pfarramt infrage gestellt. Konfusion total, Ängste allüberall, zumal die Kommunikation nach außen durch ca. 3.500 desorientierte Flüchtlinge und Evakuierte blockiert wird, die unentwegt die wenigen intakten Telefonstellen besetzt halten, um Verwandten ihr Überleben mitzuteilen oder Unterkunft für ein halbes Jahr zu erbitten. An eine baldige Rückkehr in ihre Heimatdörfer ist nicht zu denken - selbst wenn diese nicht wie SantAntonio oder Ponte di Diavolo verschüttet wurden. Auf zwei bis drei Jahre wird allein die Wiederherstellung der total zerstörten Staatsstraße 38 von Dondrio ins Veltlin veranschlagt. In ihrer Not haben sich die Behörden an alle erreichbaren Geologen gewandt, um Prognosen für die Erdbewegungen der nächsten Zeit ausarbeiten zu lassen. Wie sich zum Erstaunen aller herausgestellt hatte, beschäftigte die seit Jahren von Muren und Geröllawi nen geplagte Region Lombardei bisher nur einen einzigen staatlichen Geologen - im benachbarten Piemont sind es über 20. Der arme Erd–Kundler in der Lombardei war denn auch meist nur zum Kopfnicken angestellt, wenn seine Tourismus– und Bau–Kollegen wieder eine gefährdete Zone verplanten und schüchterne Einwände seinerseits, aber auch massive Kritik von Ökologen vom Tisch wischten: „Wir haben hier schon so viel investiert, Ökologie ist da jetzt nicht drin.“ Doch auch die angerufenen Experten wissen nicht recht weiter. „Sie haben uns alles und das Gegenteil erzählt“, klagt der Bürgermeister von Dondrio, Primo Buzzetti, „keiner weiß, was passieren wird; alle warnen, aber nicht einmal über die Frage, wie wir fliehen können, herrscht Einigkeit.“ Michele Pesbitero, einer der befragten Geologen, sagt ohne Umschweife „täglich wechselnde Anordnungen“ voraus: „Gestern war die Evakuierung wirklich angebracht, heute aber, bei diesem Sonnenschein, ist die Gefahr neuer Verrutschungen gering.“ Wie immer, wenn aktuell keine vernünftigen Entscheidungskriterien zur Abwendung einer Gefahr vorliegen, sind Utopien besonders gefragt; und da haben diesmal die Kommunisten eindeutig die Nase vorn. Noch brütete der neue Ministerpräsident Goria über der Kabinettsliste, da fiel bereits der PCI–Vize Occhetto mit einem ganzen Stab von Experten ein und gab kluge Verlautbarungen heraus. „Mindestens 9.000 Milliarden Lire“ (1,2 Milliarden DM) „zur Wiedergutmachung und Sanierung“ müßten locker gemacht werden. Woher das Geld kommen soll, sagte er nicht, auch nicht, wo denn die „Sofortmaßnahmen zum Wiederaufbau aller zerstörten Orte“ ansetzen sollen. Tatsächlich werden nach allen Berechnungen der Geologen mehr als das Doppelte der bisher betroffenen Zonen zusätzlich zu sperren und zu räumen sein, wenn Sicherheit im Veltlin einkehren soll. Doch das mag auch Occhetto nicht so genau aussprechen; schließlich ist ein gutes Drittel der 70 Ortschaften hier in PCI–Hand - und lebte bisher zu 80 Prozent vom Fremdenverkehr. Und da will sich auch der PCI nicht mit unschönen Prophezeihungen belasten.

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