Kommunen vor dem Flüchtlingsgipfel: Niedersächsischer Optimismus
In Hannover will man weiterhin sagen: Wir schaffen das. Die Stadt will bis Ende des Jahres eine Bezahlkarte für Geflüchtete einführen.
Was die Kommunen wirklich bräuchten, seien eine rasche und transparente Weitergabe finanzieller Mittel von Bund und Ländern, Bürokratieabbau – und endlich die versprochene Digitalisierung der Ausländerbehörden. Die war schon beim Flüchtlingsgipfel mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) Anfang des Jahres ein großes Thema, passiert sei aber wenig. „Wir müssen aufpassen, dass wir den Streit um Finanzierungsfragen jetzt nicht auf dem Rücken der Betroffenen austragen“, sagt Onay.
In Sachen Bürokratieabbau wird in Hannover seit längeren eine „Sozialkarte“ diskutiert. Das sei nicht zu verwechseln mit der Umstellung von Geldzahlungen, die Geflüchtete derzeit nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen, auf Sachleistungen, wie es vielfach gefordert werde, betont der Onay. Vielmehr will Hannover eine Debitkarte einführen, mit der Geflüchtete, aber auch andere Sozialleistungsempfänger ohne eigenes Konto, an der Supermarktkasse zahlen oder ihren Regelsatz am Geldautomaten abheben können. Hannover will diese Karte bereits bis Ende des Jahres einführen.
„Das verschlankt und entbürokratisiert den Auszahlungsprozess erheblich und eröffnet neue Wege für soziale Teilhabe“, sagt Sozialdezernentin Sylvia Bruns (FDP). Bisher mussten diese Menschen jedes Mal am Anfang des Monats Schlange stehen, um den Auszahlungsschein der Behörde bei der Sparkasse einzulösen. Auch der Städte- und Gemeindebund hat sich inzwischen vor dem Bund-Länder-Gipfel für eine bundweit einheitliche Bezahlkarte – eine Art Giro- oder Debitkarte – ausgesprochen.
Bei der Unterbringung der Geflüchteten will man nicht, wie im vergangenen Jahr, als viele Geflüchtete aus der Ukraine kamen, auf Zeltstädte in Messehallen zurückgreifen müssen. Stattdessen versucht die Stadt es mit einem mehrstufigen System aus großen Notunterkünften, zum Beispiel in leerstehenden Schulen oder in der alten Feuerwache. Von da sollen die Geflüchteten möglichst rasch umziehen in kleinere Gemeinschaftsunterkünfte im gesamten Stadtgebiet, dann in Wohnprojekte oder in eigene Wohnungen.
Deshalb ist die Frage nach Kapazitäten oder Kapazitätsgrenzen aber auch nicht so leicht zu beantworten: Ständig werden neue Immobilien gesucht und hergerichtet oder sogar neu gebaut, alte dagegen abgestoßen. Vor allem provisorisch hergerichtete Gewerbeimmobilien sind kostenmäßig oft ein Albtraum, sagt ein Fachmann aus dem Bereich Unterbringung. Sie seien schlecht beheizbar und entsprächen oft nicht den Brandschutzbestimmungen, so dass mehr Sicherheitsleute eingesetzt werden müsse, um als Brandwache zu fungieren. Weil sie auch bei Leerstand hohe Kosten produzierten, versuche man sie schnell wieder loszuwerden.
Aktuell sind die städtischen Unterkünfte zu 91 Prozent belegt, sagt die Sozialdezernentin. 6.068 geflüchtete Personen sind in städtischen Unterkünften untergebracht, nur 1.270 von ihnen sind Ukrainer*innen. Die erneute Landeszuweisung von 823 Geflüchteten in den nächsten sechs Monaten sei eine Herausforderung, aber zu bewältigen. Allerdings, räumt der Oberbürgermeister ein, gerate das System da ins Stocken, wo der angespannte Wohnungsmarkt dafür sorgt, dass die Menschen länger in den Unterkünften bleiben müssten, als eigentlich gewünscht. Eigentlich strebt man nämlich eine Verweildauer von maximal zwei bis drei Wochen an, das lässt sich aber nicht mehr überall halten.
Deshalb plant man nun auch in Hannover eine große Notunterkunft aus Leichtbauhallen. Die haben aus der Sicht der Stadt den Vorteil, dass sie eher einer festen Behausung gleichen als Zelte – aber gleichzeitig flexibler belegt und je nach Bedarf erweitert oder eingelagert werden können.
Aus der Sicht mancher Flüchtlingshelfer sind viele Probleme in den überlasteten Kommunen hausgemacht. Die jeweils zuständige Ausländerbehörde könne beispielsweise relativ leicht für Entlastung sorgen, in dem man Duldungen längerfristig gestalte und Arbeitsgenehmigungen großzügiger erteile – statt die Leute zu zwingen, alle paar Monate erneut vorzusprechen, glaubt Frank Steinlein vom Unterstützerkreis Flüchtlingsunterkünfte.
Tatsächlich hat das Bundeskabinett vergangene Woche Regelungen beschlossen, die es Geflüchteten mit einer Duldung erleichtern soll, Arbeit zu finden. Bisher konnte jede Ausländerbehörde eigenmächtig darüber entscheiden, ob sie überhaupt eine Arbeitserlaubnis bekommen. Geduldete sind Geflüchtete, die zwar ausreisepflichtig sind, aber nicht abgeschoben werden können – etwa, weil sie krank sind oder keine Papiere haben. Asylbewerber im laufenden Verfahren sollen zudem schon nach sechs Monaten, statt wie bisher erst nach neun Monaten, auf Jobsuche gehen dürfen.
Ein weiteres Problem sind aus Sicht der Flüchtlingshelfer allerdings die bürokratischen Wohnsitzauflagen, erzählt Steinleins Vorstandskollege Reiner Melzer: „Wir hatten hier schon Fälle, wo ein junger Mann gezwungen war, zu seiner Ausbildungsstelle im Harz zu pendeln, weil er nicht umziehen durfte. Ein anderer musste seinen unterschriebenen Mietvertrag zurückgeben, weil die Wohnung kurz hinter der Stadtgrenze lag.“
Salzgitter will gar nicht mehr aufnehmen
Es gibt auch Kommunen, die überhaupt nicht mehr gewillt sind, Geflüchtete aufzunehmen. Salzgitter hat beispielsweise gerade wieder beim Land Niedersachsen eine Ausnahme von der Flüchtlingszuweisung erwirkt – als einzige Kommune in Niedersachsen. Denn Salzgitter hat viel günstigen Wohnraum und große ausländische Communities, die wiederum Nachzügler anziehen. Man befürchte deshalb die Entstehung von Parallelgesellschaften, sagt Oberbürgermeister Frank Klingebiel (CDU). Die Geflüchteten treffen in Salzgitter auf Engstellen in einer kaputt gesparten und vom Fachkräftemangel gebeutelten Infrastruktur in Schulen, Kitas und sozialen Einrichtungen.
Dazu kommt die strukturelle Unterfinanzierung der Haushalte: Auch Hannover ist erst im August von der Kommunalaufsicht aufgefordert worden, mehr einzusparen. Die Stadt steuert auf ein dreistelliges Millionendefizit zu. Von den Kürzungen betroffen sind die freiwilligen Leistungen: Sportvereine, Kultureinrichtungen, Jugendzentren. Einrichtungen, die wiederum viel von dringend benötigter Integrationsarbeit auch für Geflüchtete leisten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut